Nachhaltig tot (German Edition)
einen jährlichen Besuch und gelegentliche Briefe beschränken. Tomomi hatte sie natürlich regelmäßig lange Briefe geschrieben und ihr alle Einzelheiten berichtet. Sie war nach Kyoto gegangen, hatte sich zunächst mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten und auf der Straße gelebt. Jeden Abend war sie durch die Gassen Gions, des Vergnügungsviertels Kyotos, gestrichen und hatte mit sehnsüchtigen Blicken die vorbei tippelnden Geishas betrachtet. Während dieser Zeit hatte sie die Fähigkeit, ihr immer männlicher werdendes Äußeres zu kaschieren, bis zur Perfektion vollendet. Selbst Tomomi hatte bei einem Treffen Mühe gehabt ihren Zwillingsbruder wiederzuerkennen. An ihrem sechzehnten Geburtstag hatte Nanami sich in einer Okiya, einem Geishahaus, vorgestellt und war aufgenommen worden. Die Okasan war ganz angetan von diesem knabenhaft zarten Wesen und hatte vom ersten Tag ihrer Ausbildung an besonderes Augenmerk auf Nanami gehabt. Nanamis Tage waren streng geregelt und gefüllt mit neuen, anspruchsvollen Aufgaben. Trotzdem war Nanami glücklich, sie brauchte sich um Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf keine Sorgen mehr zu machen. Wie ein ausgetrockneter Lehmboden das Wasser der ersten, kräftigen Regengüsse, so sog Nanami das übermittelte Wissen auf. Sie quälte sich beim Üben traditioneller Tänze, sie lernte ein Instrument und schulte ihre Stimme für den Gesang. Am Ende ihres fünften und letzten Ausbildungsjahres konnte sie eine anspruchsvolle Konversation führen und sich sicher auf jedem Bankett bewegen. Sie trug die kostbarsten Seidenkimonos in tadelloser Körperhaltung, beherrschte das kunstvolle Frisieren ihrer langen Haare und die typische Schminktechnik. Diese hatte sie zunächst vor besondere Schwierigkeiten gestellt, da der Bartwuchs und das weiß geschminkte Gesicht nicht recht harmonieren wollten. Anfangs hatte Nanami versucht die lästigen Stoppeln einzeln, mit der Pinzette, auszuzupfen. Diese mühsame, zeitraubende Prozedur kostete sie eine Stunde ihrer ohnehin kurzen Nachtruhe. Schon bald musste Nanami einsehen, dass sie eine andere Lösung für dieses Problem finden musste. Sie hatte sich im Viertel umgehört und schließlich dazu durchgerungen, als Mann verkleidet - sie hatte es als Maskierung empfunden, Männerkleidung zu tragen –, eine Bar zu besuchen, in der bekanntermaßen ein buntes Volk von Homosexuellen und Transsexuellen verkehrte. Dort hörte sie von der Möglichkeit,
sich die Barthaare mithilfe eines Lasers dauerhaft entfernen zu lassen und schnappte erste Informationen über Hormonbehandlungen auf. Sie erkaufte sich mit ihrem, für die Gäste dieses Etablissements, sehr begehrenswerten Körper Adressen von Ärzten, die verschwiegen waren und es mit der Legalität nicht so genau nahmen. Als sie die kleinen, weißen Pillen zum ersten Mal in ihrer Hand gehalten hatte, waren zaghafte Zweifel in ihr aufgekommen. Sie hatte einen zögernden Blick in den Spiegel geworfen und krampfhaft geschluckt. Als sie dabei sah, wie ihr Adamsapfel hoch und runter hüpfte wie ein Pingpong-Ball, hatten sich alle Zweifel zerstreut und sie wartete von diesem Moment an nur noch sehnsüchtig darauf, dass die erhoffte Wirkung eintreten würde. Es war zwar ein ganzes Jahr Geduld nötig gewesen, aber dann war das Ergebnis perfekt. Ihre ohnehin zarten Gesichtszüge waren noch weicher geworden, ihr Bartwuchs war ganz und gar eingedämmt worden und ihr knabenhaft schlanker Körper zeigte weiche Rundungen. Nanami war glücklich und am Tag ihrer Einführung als Geisha am Ziel ihrer Träume angekommen. Es war ihr gelungen auch für ihre Schwester, die mittlerweile eine sehr gute Stellung in Kyoto innehatte, eine Einladung zu organisieren. Es bedeutete Geisha sehr viel, diesen wichtigen Tag mit Tomomi teilen zu können. Sie war der einzige Mensch, der ihr immer wieder Mut zugesprochen hatte. Tomomi war immer für sie da gewesen. Und nun drohte dank Geschäftsmanns Drängen alles wie eine Seifenblase zu zerplatzen. Er war nicht nur mit dafür verantwortlich, dass sie den einzigen Menschen, der ihr wichtig war, verloren hatte, nun wollte er durch eine andere Art von Gier ihr mühsam erkämpftes Leben als Geisha zerstören. Nanami stieß Geschäftsmann von sich. Sie kämpfte gegen den Hass, die unbändige Wut, die in ihr aufkeimte. „Nanami, was soll denn das jetzt noch?“, fragte Geschäftsmann in gereiztem Ton und ging auf Geisha zu. Geisha sah ihm in die Augen, registrierte das Verlangen darin.
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