Nachhinein
ist unser Straßennetz durch Wuchs und Wiesen.
Die Korridore durchs Grünland haben meine oder deine oder seine Breite und führen über mehrere Leibeslängen zu den »Zimmern«, jenen rundlichen Flächen im Feld, welche wir mit unseren Nudelholzkörpern aus- und plattwalzen.
Bäuchlings auf dem pistaziengrünen Laken liegend zähle ich seine bunten Sprenkel. Völlig verfleckt, das Ding.
Neben mir reißen gelbe Löwenzähne die Mäuler auf. Ihr Brüllen schlägt Hahnenfüße in die Flucht. Im Publikum rote Klatscher und kornblumenblaue Mädchenaugen.
Wer sich auf den Rücken rollt, kann mit den Augen die Schäfchen am Himmel streicheln und zugleich, mit blinden Fingern, eine Schafgarbe zwischen den Blüten kraulen.
Leute, die vorüberspazieren ahnen nichts von mir und JasminCelineJustine oder mir und dem Ägypter oder uns allen dreien. Die Vögel allein kennen unser Versteck. Sie lassen sich auf Bäumen und Zäunen nieder, trillern und tratschen alles aus, verraten uns täglich, halten nichts zurück. Doch vergebens. Keiner versteht ihr Gepfeife.
Wir bleiben im Verborgenen. Verschluckt von Abertausenden Halmen.
So manches, was wir in die lebenden Heuhaufen tragen, verschwindet für immer.
Wie Schneeflöckchen, das debil grinsende Plastikpony mit den violetten, zweiwimprigen Augen. Das Wort Plastik macht den Hinweis darauf, dass Schneeflöckchen selbstverständlich in deinem Besitz war, fast überflüssig …
Schneeflöckchen besaß jene typische Quietscheenten-Haptik, allerdings ohne Ventil und also ohne Sound. Sie war ein stummes, aus einem Kopf- und einem Körperteil zusammengesetztes Stück elastischer Kunststoff mit kämmbarer Mähne und Schwanz. Ihre Farbe war Pink. Pink mit viel Milch. Zwar stand sie mit allen vier Beinstümpfen (einigermaßen) fest auf der Erde, ließ sich jedoch bereitwillig von Würfen und Tritten bis hoch hinauf in die Kirschbaumwipfel katapultieren.
Ich habe Schneeflöckchen vom ersten Moment an gehasst.
Die anbiedernde Art, mit welcher sie ihr nach Streicheleinheiten hechelndes Kinn anhob und dabei ihre Kehle darbot, erweckten in mir das Bedürfnis, die Fingernägel in die Nahtstelle zwischen Kopf und Rumpf zu schieben, um das eine vom anderen zu trennen.
Ihr süßliches Betteln um Zuneigung rief in mir diese besondere Ungeduld hervor, die zwischen den Beinen juckt und in den Fingern kribbelt.
Druck, der nach Entladung verlangt. Elektrische Impulse, die in Fäusten zusammenfließen, welche auf den Schädel des verdammten Scheißflöckchens niedergehen wollen wie Bolzenschüsse.
Aber da mir das Tier nun mal nicht gehörte, blieb mir nur das ewige Streichen, Drücken und Umfassen; das Nachfahren ihrer Konturen und das von JasminCelineJustine nur selten gestattete Hinaufschleudern des rosa Viehs in kirschrot getupfte Lüfte …
Einmal jedoch – wir waren im Feld, es war ein Schleudertag – endete Schneeflöckchens Flugkurve zu früh. Ehe sie die rettende Plattform des zweiten, von JasminCelineJustine ins Gras gewalzten, Zimmers erreichen konnte, schoss sie aus der Heiterkeit des Himmels hernieder. Ihr tragischer Absturz über jenen unergründlich grünen Tiefen, die niemand je befahren hatte, traf uns vollkommen unvorbereitet. JasminCelineJustine stand noch eine ganze Weile, die Arme in Erwartung des Flöckchenfalls weit ausgebreitet, den Blick starr ins Blaue gerichtet. Besorgte Rufe schallten von Zimmer zu Zimmer. Bange Stimmen über hochhalmiger See.
Wir beschlossen sofort den Beginn einer großen Suchaktion.
Am Ende jenes Nachmittags gab es keine Grassträhne mehr, die unsere grünlich verfärbten Finger nicht durchkämmt hätten.
Schneeflöckchen blieb verschwunden.
Der Gedanke, dass bald die ersten Nacktschnecken über ihren taubenetzten Leib kriechen würden, machte mich froh. Das Mähdrescher-Schicksal dagegen wäre mir, hätte JasminCelineJustine nicht voller Sorge darauf hingewiesen, gar nicht in den Sinn gekommen. Doch nun sah ich Schneeflöckchen in dem gewaltigen, mit Eisenzähnen bestückten Dreschermaul verschwinden. Ein paar Flocken Häcksel, welche den Kühen nicht bekommen – mehr würde nicht von ihr übrigbleiben.
Der Anblick von Mähmaschinen und Heuballen bog mir in den folgenden Monaten stets die Mundwinkel nach oben. Ein Ärgernis hatte sich auf wunderbare Weise von selbst beseitigt. So war mir das am liebsten.
18.
Sommer ’92.
JasminCelineJustine sitzt krummrückig da und spielt mit den Fingern. Diese haben die bescheidene Auswahl
Weitere Kostenlose Bücher