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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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mit halbherzigen Stupsern und Stößen. Er konnte sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass er längst wusste, wie Rita unter ihren Fellschichten aussah. Seine Prankenhiebe verloren ihre Präzision. Das Gefühl, sich sattgesehen zu haben, stellte sich ein.
    JasminCelineJustines frisch entflammte Liebe zu den Charakteren aus »Streetfighter 2« brannte den Wald, in welchem unsere Tierfiguren gehaust hatten, innerhalb weniger Tage bis auf den letzten Baum nieder. Es entstand eine große, gerodete Fläche, die endlich Platz für Menschen bot.
    Ohne öde Umwege über Vater-Mutter-Kind-Konstellationen ließen wir uns direkt auf eine Bande wilder Straßenkämpfer ein, deren Mitglieder die übrig gebliebenen Baumstümpfe mit Karateschlägen spalteten.
    Staunend sahen wir den finsteren, muskelbepackten Gesellen dabei zu, wie sie fliehende Eichhörnchen beim Schwanz packten und ihnen, in ihrer unendlichen Gier nach eiweißreicher Kost, die Köpfe abbissen.
    Auf meine spielfreie Zeit hatten diese Neuerungen allerdings keinen größeren Einfluss. Wenn ich mich nicht gerade zur Turnstunde kutschieren ließ, kauerte ich weiterhin in Raubkatzenmanier über meinem geliebten Tasteninstrument, von dem mich nur noch die Sehnenscheidenentzündung, die zuweilen meinen rechten Arm befiel, länger zu trennen vermochte.
    Auf der Westseite der Straße dagegen, waren die vielen, einstmals quälend leeren Stunden, plötzlich zum Platzen angefüllt mit Kicks, Hits, Tricks und dem Traum vom Endsieg über alle Rivalen. Das Mädchen, das nach der Schule bei mir klingelte, wurde zur Vorhut einer Armee furchterregender Fighter in schrillen Kostümen.
    Die Schläger waren nicht mehr abzuschütteln. Sie klebten wie Spinnentiere unter deinen Locken. Jeder Versuch, sich ihrer zu entledigen, scheiterte an immer neuen Fangfäden, an denen sie sich zurück in deinen Kopf hangelten. Nicht, dass ich diesbezüglich tatsächliche, ernstzunehmende »Versuche« unternommen hätte, im Gegenteil: Die innigen Beziehungen, die sich zwischen dir und den rachsüchtigen Bewohnern der Videospielwelt entwickelten, faszinierten mich. Irgendein »Mehr« schien hinter alldem zu stecken ⁠…
    Manchmal war mir, als könnte ich die Konturen einer größeren Wahrheit erkennen, die irgendwo auf dem Grund des mit Pixelblut und Kampfgeheul angefüllten Sees liegen musste. Aber mir fehlten für weitere Nachforschungen die Geduld und das Interesse. So kam es, dass ich niemals lange genug an deinen Ufern stand, um jene vollständige Glättung der Wogen, die vielleicht eine Durchsicht, eine Klarheit bis auf den Grund hinab ermöglicht hätte, zu erleben.
    Das Geheimnis unaufgedeckt zu lassen, bedeutete ja auch weitere, reizvolle Stunden. Gut für mich, die ich auf Reiz wie Fülle so versessen war, wie auf nichts sonst:
    Meine Sehnsucht nach körperlicher und geistiger Stimulation wuchs Monat um Monat. Zugleich verstärkte sich mein seit jeher recht ausgeprägter Pragmatismus enorm.
    Die kämpfenden Kerle waren nun mal da. Warum sollte man sie nicht nutzen ⁠…?
    Das Schlüpfen in die Haut anderer Wesen schien mir, nach der Musik, weiterhin die beste Fluchtmöglichkeit zu sein vor dem, was sich nach jedem Mittagessen in den unzufriedenen Ecken meines Kopfes gewitterartig zusammenbraute:
    Tödliche,
    die Zimmerlandschaft wie Heuschreckenschwärme überfallende
    Langeweile.

TEIL 2
    21.
    Ein Sonntagmorgen.
    Die Mutter, Küchenkraft in einem Pflegeheim, ist schon auf Arbeit.
    Am Wochenende frühstücken die Alten eine Stunde später. Manche bekommen Besuch. Die Zeitverschiebung bemerken sie kaum. Den Frauen in der Küche nutzt das verspätete Weckerklingeln wenig. Ein früher Feierabend wäre ihnen lieber.
    Seit die Tür hinter der Mutter ins Schloss gefallen ist, liegt sie wach.
    Wenn sie sich aufrichtet, kann sie du r ch die Fensterscheibe, über Rasen- und Asphaltflächen hinweg, bis in den Hof der von Brauns schauen, auf das helle, hölzerne Garagentor.
    Sie starrt schon eine ganze Weile rüber. Warum, weiß sie nicht. Plötzlich, als gebe es dem Druck ihrer Sehkraft nach, öffnet sich das Tor. Durch die geöffnete Fensterscheibe dringt das feine, kaum hörbare Surren des elektrischen Antriebs. Ein schwarzer, glänzender Wagen mit sternverzierter Schnauze gleitet auf die Straße. Für die Schatten im Fahrzeuginneren bleibt das Mädchen im Bett unsichtbar. Das Auto wirft einen letzten Blick auf sein Spiegelbild und verschwindet.
    In der Denkblase, die hinter dem Scheibenspiegel

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