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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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kommt mir sogar vor, als ob ich mein einziger Freund bin. Meine Mutter versteht mich nur ein ganz kleines bißchen, und mein Vater, der versteht mich überhaupt nicht. Ich habe in der Zeit viel über meinen Vater rausgekriegt, was ich ihm nicht zugetraut hätte. Miterlebt: Er hat meine Mutter 3 mal geschlagen. Ich kann die Schreie noch hören. Ich habe Angst!!!!!!!!!!«
    25.
    Endlich Veränderung. Zeugnis und Gymnasialempfehlung bestätigen offiziell, dass ich dem Grundschulgehäuse entwachsen bin.
    Seit Jahren habe ich diesen letzten Schultag herbeigesehnt, von dem ich mir erhoffe, dass er mich endgültig vom Stumpfsinn der mich umzingelnden Bauernkinder, die mir ihre Poesiealben, Geburtstagseinladungen und Zuneigung stets konsequent vorenthalten haben, befreit.
    In der Bank vor mir fängt die Kopie zu flennen an.
    Es will ihr einfach nicht in den Schädel, dass »die von Braun«, die jedes Jahr den Bücherzettel vergisst, Hausaufgaben in den 5-Minuten-Pausen auf zerfleddertem Löschpapier erledigt und nie, wirklich NIE , mit Lineal unterstreicht, nun aufs Gymnasium darf, und sie, wo sie doch »die schönste Schrift der Klasse« hat, so schön, dass sie sogar den Brief, den die Klasse (aus Gründen, die mir entfallen sind) an den Bürgermeister geschrieben hat, »ins Reine schreiben« und adressieren durfte, SIE darf nicht!
    Ehrlich gesagt habe ich mich in der Tat herzlich wenig um diese Empfehlung bemüht. Letztlich verdanke ich meinen Befähigungsbescheid wohl vor allem der Tatsache, dass unser Klassenlehrer neben Deutsch auch Musik unterrichtet.
    Wenn er mich in den großen Pausen im Musikzimmer erwischte (und er erwischte mich immer, da konnte ich die Tasten so pianissimo anschlagen, wie ich wollte), zwinkerte er mir zu und ließ mich weiterspielen. Besonders während der Wintermonate, deren kurze Tage die Schultern und Mundwinkel des sensiblen Lehrkörpers stets steil nach unten abfallen ließen, kauerte er sich gerne auf einem der neben seinen langen Spinnenbeinen lächerlich zwergenhaft wirkenden Stühle nieder, packte sein Vesper aus und hörte mir zu. Auf die Pausenaufsicht zu pfeifen, bereitete ihm offenbar eine diebische Freude. Für gewöhnlich schloss er, nachdem er sich auf dem Stühlchen arrangiert und das Butterbrotpapier unter einer Schulbank hatte verschwinden lassen, die Augen und kaute genüsslich im Takt. Tischmanieren hatte er keine. Sein schmatzender, zumeist weit offenstehender Mund, gewährte interessante Einblicke auf den, zwischen bräunlich verfärbten Zahnreihen stattfindenden, Mahlprozess.
    Er mochte noch so nett und freundlich und nachsichtig und irgendwie bemitleidenswert sein – vor seinem Lyonerbrot-Atem ekelte ich mich trotzdem. Je weiter er vom Klavier entfernt saß, desto angenehmer war mir seine Anwesenheit.
    Eine Beschreibung des Instruments, an dem ich den Großteil meiner Grundschulpausen verbrachte, erscheint mir an dieser Stelle unausweichlich, zumal man das schwarzlackierte Schulklavier bedenkenlos als »echte Schönheit« bezeichnen durfte.
    Vom ersten Augenblick an war ich dem dunkelglänzenden Ding hoffnungslos verfallen. Ich empfand es, verglichen mit dem hellhölzernen, das ich von zu Hause gewohnt war, als sehr viel eleganter. Laut ausgesprochen hätte ich diesen frevelhaften Gedanken allerdings nie, war ich doch überzeugt, dass jedem Instrument eine hochsensible Seele innewohnt. Die Gefahr, mein Klavier irgendwie zu beleidigen, zu erzürnen und schlimmstenfalls gar seine Gunst zu verlieren, wollte ich keinesfalls eingehen. Wann immer ich spürte, dass meine Augen allzu bewundernd über die spiegelnden Flanken des Schulklaviers strichen, schimpfte ich mich ein undankbares Gör und entschuldigte mich im Geiste tausendmal bei dem treuen Tastentier, von dem ich wusste, dass es seit Tagesanbruch auf den Moment wartete, in dem ich vor ihm Platz nehmen und es zum Klingen bringen würde.
    Der verzückt lauschende Klassenlehrer, welcher einst Musik mit Hauptfach Klavier studiert hatte, war völlig besessen von der Idee, »junge Talente« zu »entdecken« und zu »fördern«.
    Nachdem er mich zum ersten Mal hatte spielen hören, hinterließ er zwei Dutzend aufgeregte Nachrichten auf unserem Anrufbeantworter, was meinen sich stets absolute Ruhe ausbittenden Vater einen ganzen Arbeitstag kostete. Irgendwann muss er, verzweifelt hoffend, den Störungen damit ein Ende zu bereiten, allerdings doch zum Hörer gegriffen haben. Besonders freundlich kann er dabei nicht geklungen

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