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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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haben ⁠…
    Den Klassenlehrer hingegen, im Umgang mit schroffen, uneinsichtigen und unfreundlichen Eltern geübt, konnte eine kurzangebundene, leicht gehetzt klingende Telefonstimme längst nicht mehr aus dem Konzept bringen, und so forderte er meine Eltern weiterhin unermüdlich dazu auf, mich »unbedingt« bei »Jugend musiziert« anzumelden. Er selbst sei Teil der Fachjury und empfände es als »Sünd und Schad und ungeheuerlich«, ja, geradezu als »Vernachlässigung der elterlichen Pflicht«, wenn »ein solches Talent wie die LottaLuisaLuzia« nicht am Wettbewerb teilnehmen würde.
    Mein armer Vater, der sich nichts sehnlicher wünschte, als zu seinen Studien zurückzukehren, versuchte bei diesen Gelegenheiten mehrmals, dem Klassenlehrer meine grundsätzliche Abneigung gegen das Spielen vom Blatt begreiflich zu machen. Des Weiteren verstörte er ihn mit der Aussage, dass er selbst von »der Vergiftung der Kunst durch derlei Wettbewerbe« rein gar nichts hielte.
    Selbstverständlich wurde auch ich angesprochen.
    Nachdem ich die permanente Nachfragerei über Wochen mit unentschlossenem Schulterzucken beantwortet hatte, fiel mir eines Nachmittags, als ich das Bücherregal meines Vaters nach schlüpfrigen, verboten klingenden Titeln absuchte – der Ägypter und ich lasen uns neuerdings auf dem Weg zur Kirche gegenseitig skandalöse, Wangen und Ohren erhitzende Passagen aus den Büchern unserer Eltern vor –, eine Glenn-Gould-Biografie in die Hände. Das Buch war entmutigend dick. Sein Vorwort sterbenslangweilig. Immerhin enthielt es mehrere glattglänzende Seiten mit Schwarz-Weiß-Fotografien.
    »Bevor er sich ans Klavier setzte, badete Glenn jedes Mal seine Hände und Unterarme 20 Minuten lang in heißem Wasser«, lautete die Bildunterschrift einer Fotografie, die einen jungen, mit hochgekrempelten Hemdsärmeln über einem weißen Waschbecken hängenden, Gould zeigte.
    Im nächsten Bild kniete er vor dem Klavier und schien im Begriff, einen Hocker zusammenzuschrauben, bei dem es sich offenbar um »den legendären Klappstuhl, der Glenn Gould sein Leben lang begleitete«, handelte. Weiter hinten tauchte der Hocker abermals auf, diesmal mit einem Zitat Goulds: »Wie irgendjemand auf einem normalen Klavierhocker sitzen kann, ist mir schleierhaft.«
    Die Fotografie, die mich am meisten faszinierte, war eine aus der Vogelperspektive aufgenommene Aufnahme, welche Flügel und Gould vor einem scheinbar endlosen, nachtschwarzen Saal zeigte. Von den leuchtend weißen Tasten und einigen wenigen Lichtreflexen auf dem Instrument abgesehen, schien die Szenerie wie von dichtem Nebel verschleiert. Mitten in jenem grauen, körnigen Dunst schwamm die Bühne, deren Ränder mit der Schwärze des Zuschauerraumes verschmolzen. Der Pianistenkörper selbst blieb, bis auf Hände und ein zart angedeutetes Profil, fast unsichtbar. Mit großen Staunaugen las ich den Satz zur Fotografie: »Ich glaube nicht an den Konzertbetrieb – er ist ein Unsinn, ein absoluter Selbstbetrug.«
    26.
    Mein Bücherfund hat Konsequenzen. Beim Abendessen verkünde ich meinen Eltern, dass ich eine Teilnahme am Jugend-musiziert-Wettbewerb nicht länger ausschließe. Allerdings gäbe es eine Reihe von Bedingungen, deren Erfüllung für das Gelingen meines Auftritts von entscheidender Bedeutung seien. Als ich mich erhebe und meine Liste entfalte, schielt mein Vater über den Zeitungsrand. Die Hälfte seiner Aufmerksamkeit gehört mir, die andere dem Weltgeschehen. Rechts von ihm flackert ein besorgter, aber durchaus leicht amüsierter Mutterblick.
    Ich räuspere mich. »Also: 1. Ich werde ein weißes Hemd und eine schwarze Anzughose tragen (das Hemd nicht, oder nur teilweise in die Hose gesteckt). 2. Ich werde ohne Schuhe auf die Bühne gehen. 3. Das Gebäude, in dem der Auftritt stattfindet, muss über einen Warmwasseranschluss und Waschbecken verfügen, damit ich meine Arme zur Vorbereitung in einem wohltemperierten Wasserbad erwärmen kann. 4. Es muss mir erlaubt sein, auf meinem eigenen, von zu Hause mitgebrachten Klavierstuhl zu sitzen. 5. Ich werde Bach spielen, sonst nichts.«
    Schweigen.
    Eine Mutterhand tastet etwas ratlos nach dem Vaterschenkel, fordert ihn zum Sprechen auf. Die Zeitung raschelt.
    Ich soll tun, was ich für richtig halte, seufzt es hinter den Seiten, und vor allem soll ich, wenn ich schon seine Regale durchforste, doch bitte darauf achten, die alphabetische Reihenfolge der Bände nicht durcheinanderzubringen.
    27.
    In den Wochen vor dem

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