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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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Konzert fühle ich mich von einer Art grimmiger Entschlossenheit getrieben. Zu bemerken, wie absolut inkonsequent ich in meiner Noten-Verweigerung gewesen war, irritiert mich. Offenbar haben sich Wissen und Können irgendwie unbemerkt in mich eingeschlichen, mit dem Ergebnis, dass fehlerfreies Spielen vom Blatt keinerlei Schwierigkeit für mich darstellt.
    Verfeinert die Überwindung eines Widerwillens die Fertigkeiten? Lernt man das, was man am meisten in Frage stellt, letztendlich am gründlichsten? Ich weiß es nicht.
    Mein Können zu bewerten, hatte mich bislang nie interessiert. Es war ein Spielen um des Spielens willen gewesen. Natürlich wusste ich um die Existenz gewisser Qualitätskriterien. Diese schienen mir jedoch fern von mir, meinem Spielen und Fühlen zu sein. Frau Lichtels Vorgehensweise, ein Musikstück wie ein Diktat nach Schwierigkeiten und Fehlern zu durchsuchen, akzeptierte ich, ähnlich wie ihre Elefantensammlung, als eine Art merkwürdigen Tick. Das Kategorisieren in »richtig« und »falsch« als Obsession einer älteren Dame anzusehen, erleichterte mir den Umgang mit ihrer, teils sehr strengen, Kritik. Am Ende der Klavierstunde, wenn sie mich aus der Tür und ins Freie entließ, sprengte ich das enge Bewertungskorsett innerhalb weniger Atemzüge und beeilte mich, zu meinen eigenen Maßstäben zurückzukehren.
    Vor den Noten zu sitzen, zu spielen und mich selbst in Lichtelscher Manier zu bewerten, ist also neu. Den eigenen Entwicklungsstand zu bemerken ebenso.
    Dennoch nerven die besserwisserischen Blätter.
    Um ein Stück Freiheit und Unbeschwertheit zurückzugewinnen, bemühe ich mich um schnellstmögliches Auswendiglernen. Ohne das strenge Notengesetzbuch erscheinen mir die Melodien augenblicklich leichter. Freudig und flink, wie ein Schwarm kleiner Fische, entrinnen die Töne den engen Maschen des Liniennetzes. Musik blubbert durch den Raum.
    28.
    Der Tag X.
    Ich, im Erstkommunionsanzug des Ägypters auf dem Rücksitz. Im Kofferraum der Klavierstuhl. Mein Vater lässt sich entschuldigen. Die Symmetrien ⁠…
    Wir erreichen den Gemeindesaal, sind, wie gewöhnlich, spät dran.
    Ich steuere auf das überfüllte Mädchenklo zu, lasse Wasser ins Becken laufen, übertöne das Plätschern der Stresspinklerinnen in den Kabinen.
    Mit feuchten Unterarmen und lässig heraushängendem Hemd schlurfe ich über die Bühne, wo mich der geliebte, lederbezogene Hocker erwartet.
    In den ersten Reihen Mittelscheitel, Zöpfe und erstaunte, leicht geöffnete Münder. Im Hintergrund das empörte Kopfschütteln ehrgeiziger Erziehungsberechtigter, die meine Aufmachung als Provokation empfinden. Eine blonde Frau, deren Kleidung und Dauerwelle mich an die Leopardin erinnern, ermordet meine Mutter mit Giftblicken.
    Dann der Moment, in dem sich meine Finger auf den Tasten niederlassen: zehn kleine Tänzer, die die Umgebung vergessen machen. Unterm Brustbein Helligkeit. Alles wird leicht.
    Ich spüre das Metronom, das mein Herz ist. Es schlägt.
    Gedanken an Technik, Takt und Tonfolge überspült der Spielfluss. Melodieströme durchqueren mich der Länge nach, ergießen sich in Hände. Vollgefüllte Finger bewegen sich wellenartig.
    Die Stücke, die ich abtaste, sind alte Bekannte. Ihr Relief so vertraut wie das fest verwachsener Körperteile, um deren Höhen, Tiefen und Struktur man instinktiv weiß.
    Spannung und Stille im Publikum verfestigen sich mit jedem Ton, werden tief, nachdrücklich. Ich überfliege den schweigenden Scherenschnitt der Zuhörer in einem Klavierboot, dessen Segel mein Hemd ist.
    Letzte Variationen brausen mir um die Nase. Es sind nicht Hände oder Klavier, es ist der Wind, der spielt. Er mag Bach.
    Am Ende muss alles verklingen.
    Ich stehe auf. Halte mein Gesicht in den Platzregen aus Applaus. Verbeuge mich, wie ich es zu Hause täglich tue.
    Obwohl meine Stücke beide aus einer und nicht, wie vorgeschrieben, aus zwei verschiedenen Epochen stammen, überhäuft mich die Jury mit Punkten.
    Ich muss an den gelben 21-Punkt-Marienkäfer denken, den ich kürzlich in den Beerenbüschen entdeckt habe. Kränklich sah er aus. Der ganze Rücken schwarz überwuchert. Ein ungesundes Zuviel an Punkten ⁠…
    Die Augen des Klassenlehrers glänzen fiebrig. Er schwärmt von Bundesfinalwettbewerben.
    Ich fühle mich müde. Sehr müde.
    Endlich gelingt uns die Flucht auf den Parkplatz. Auf der Heimfahrt beobachte ich die Scheibenwischer, denke an Zukünftiges. Der tiefere Sinn weiterer Auftritte will sich mir

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