Nachkriegskinder
auch das Wort Hunger drin.« Auch habe sie den Mann stets überschätzt, räumt sie selbstkritisch ein, und sie habe gehofft, er werde sein sparsames Wohlwollen ihr gegenüber steigern – wenn sie ganz lieb zu ihm sei.
Wie ich im weiteren Verlauf unseres Telefongesprächs erfahre, ist mit Gregor, ihrem neuen Freund, alles anders. Zum Beispiel: Vera kommt an einem Abend total erschöpft heim. Sie telefonieren. Vera sagt, an diesem Abend könnten sie sich nicht mehr treffen, |59| sie läge schon im Bett. Aber Gregor meint, er würde sie dennoch gern sehen, nur kurz, für eine halbe Stunde. Er besucht sie, bringt ihr einen Tee ans Bett, streicht ihr über den Kopf, sitzt bei ihr. Nach 30 Minuten geht er wieder. Am folgenden Tag sagt er seiner Freundin, wie sehr er diese Zeit an ihrem Bett genossen habe. Das alles schildert mir Vera Christen am Telefon und fügt hinzu: »Aber wissen Sie was?
Ich
habe es nicht genossen! Verwöhnt zu werden, das kenne ich überhaupt nicht.
Ich
war doch immer diejenige, die dafür sorgte, dass es den anderen gut ging. Je mehr ich mich anstrengte, umso stärker waren meine Gefühle für sie. Aber war das wirklich Liebe? Was ich jetzt mit Gregor erlebe, ist für mich ein Quantensprung.«
Noch einmal kommt Vera auf ihren Vater zu sprechen. Er war der Meinung gewesen, Freiheit und Geborgenheit schlössen einander aus – entweder Freiheit oder Geborgenheit. Da müsse man sich entscheiden. Für Vera Christen sind Freiheit und Geborgenheit ein Geschenk des Urvertrauens und gehören zusammen. Das Urvertrauen sei ihrem Vater im Krieg sicherlich verlorengegangen, sollte er es vorher jemals gehabt haben, erläutert sie. Und wie solle man etwas so Kostbares an seine Kinder weitergeben, wenn es in einem selbst zerstört worden sei?
Ich frage sie, wie es ihr als Mutter gelungen sei, ihren eigenen Kindern eben dieses Vertrauen ins Leben zu geben, mit dem sie selbst nicht ausgestattet war. Eine wirkliche Erklärung könne sie nicht anbieten, sagt sie, aber eine Beschreibung: Sie habe von Anfang an, schon während der Schwangerschaften, eine tiefe Verbundenheit mit ihren Kindern empfunden. Auch habe ihr der neue Zeitgeist in der Pädagogik sehr geholfen. Überall in den Medien, im Fernsehen, in der Zeitschrift »Eltern« sei davon die Rede gewesen, wie viel wohlwollende Aufmerksamkeit Kinder brauchen. Dann erzählt sie von einem Schlüsselerlebnis, direkt nach der Geburt ihres ersten Kindes. Sie lag im Bett und wollte schlafen. Doch das Neugeborene schaute so wach in die Welt, dass sie sich sagte: Ich kann doch jetzt nicht schlafen! Mein Kind ist neugierig |60| auf seine Umgebung, und ich bin neugierig auf mein Kind. Ich will doch wissen: Wer ist mein Sohn? – Im Grunde, fügt Vera Christen hinzu, reiche es schon, Kinder mit aufmerksamer Wahrnehmung und Respekt zu behandeln.
Von der Schulbank in den Krieg
»Aufmerksam sein« und »wahrnehmen« sind relativ neue Begriffe, mit denen gute Beziehungen beschrieben werden. Veras Vater hätte vermutlich nicht gewusst, wovon genau die Rede ist, doch dass man sich in der Ehe mit Respekt zu behandeln habe, dem hätte er sicher zugestimmt. Es ist bedauerlich, dass in diesem Buch nur einseitig die Sicht der Nachkriegskinder auf ihre Väter wiedergegeben werden kann. Über das, was in Bernhard Klemm vorging, lässt sich heute nur spekulieren.
Bei meinen Lesungen vor Kriegskindern meldeten sich gelegentlich Besucher zu Wort, die meinten, sie gehörten ja eigentlich nicht dazu, sie seien Jahrgang 1926 oder 1927. Je länger sie redeten, umso deutlicher wurde: Sie fanden die hier stattfindende Veranstaltung unpassend – was hatten die Kriegskinder schon Schlimmes erlebt, gemessen an dem, was sie an der Front und in der Gefangenschaft mitgemacht hatten. Der Subtext war klar: Es sei an der Zeit, dass auch diejenigen, die von der Schulbank in den Krieg gezogen waren, in der Öffentlichkeit wahrgenommen würden. Ich fand, sie hatten Recht, und fragte eine Reihe von Kollegen, ob sie sich ein entsprechendes Buchprojekt zu eigen machen könnten. Ich war der Meinung, diese Aufgabe müsse ein Mann übernehmen. Stets fügte ich hinzu, die Zeit sei reif für ein solches Buch, es würde gewiss viel Beachtung erfahren – aber auch, dass die Zeit dränge, weil es in wenigen Jahren kaum noch Interviewpartner geben werde. Alle von mir angesprochenen Männer winkten ab. Begründung: Die ehemaligen Soldaten würden |61| sich ausschließlich als Opfer sehen und die Verbrechen
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