Nachkriegskinder
gutzumachender Fehler der jungen Bundesrepublik gewesen. Auch sprach er ohne Groll über die Russen und über seine Erfahrungen in sowjetischen Gefangenenlagern. Die junge Iris sah keinen |67| Grund, ihren Vater für die deutsche Schuld verantwortlich zu machen und unterschied sich damit von vielen Gleichaltrigen die, wie sie selbst, mit den rebellischen Studenten sympathisierten. Doch vermutlich, so erklärt sie mir, wäre sie ihrem Vater mit mehr Respekt begegnet, hätte sie gewusst, dass er, obwohl nicht einmal Kirchenmitglied, nach dem Krieg als Ausnahmepersönlichkeit galt. Er stand im Ruf, integer zu sein, man hatte Hochachtung vor ihm.
Was wäre gewesen, wenn …? Vorbei ist vorbei, was sollen solche Grübeleien jetzt noch bringen? Doch Iris Mallek, die auf die 60 zugeht, empfindet gerade Fragen im Konjunktiv hilfreich für ihre Lebensbilanz, keine einfache Zeit, wie sie einräumt. Wer gründlich sein Leben überdenkt, muss sich von einigen Gewissheiten verabschieden. Er deckt Irrtümer und Missverständnisse auf. Er erkennt, welche Chancen nicht wahrgenommen wurden und weiß nicht, was mehr schmerzt: die selbst verschuldeten oder die unverschuldeten Versäumnisse. Zum Beispiel stellt sich Iris die Frage: Hätten Vater und ich vielleicht doch eine andere, eine bessere Beziehung haben können? Mussten unsere politischen Auseinandersetzungen ausschließlich im Schwarz-Weiß-Modus geführt werden? Warum war es unmöglich gewesen, gemeinsame Sichtweisen zu erkennen, die es, wie sie nun aus der Rückschau weiß, durchaus gegeben hatte? Warum konnte Erich Mallek anderen Menschen Orientierung geben, ja sogar ein Vorbild sein, aber seinen Töchtern nicht?
»Dann geh doch nach drüben!«
Iris zeigt auf das Stück Papier aus dem Jahr 1948. »Wie soll ich das je verstehen? Warum hat er mir nicht gezeigt, wer er war?« Über viele Jahre hatten sie laute, erbitterte Debatten geführt. Wenn sie den Sozialismus verteidigte, kam von ihm jedes Mal der Satz: »Dann geh doch nach drüben!« Eines Tages hatte sie pariert: »Besser, du gehst selbst nach drüben! Du wärst der ideale DDR-Bürger!« |68| Der Vater sei konservativ bis spießig gewesen, erklärt sie, ein rechter Sozialdemokrat, ein Frauenfeind, aber sehr sozial eingestellt. Typisch für ihn: Er fand die Inhalte der Grünen gut, aber gewählt hätte er die junge Partei nie, weil Joschka Fischer sich im hessischen Landtag in Turnschuhen zum Umweltminister hatte vereidigen lassen. Auch sie selbst habe damals Sonderbares von sich gegeben, gibt sie zu. Die DDR vehement verteidigt zu haben, ist ihr heute etwas peinlich.
Sie, die Älteste von vier Schwestern, sei ihrem Vater im Charakter sehr ähnlich, teilt Iris mir ungefragt mit. Sie sei genauso aufbrausend und launisch wie er, mit einem Hang zur Rechthaberei. »Was man vorgelebt kriegt, das prägt einen nun mal. Daher muss ich ehrlich sagen: Ich bin mein zweiter Vater.«
Iris Mallek war mir von einer gemeinsamen Bekannten aus Süddeutschland mit den Worten empfohlen worden, »ihre Geschichte würde gut in dein neues Buch passen. Diese Frau trägt das Herz auf der Zunge …« Die Bühnenbildnerin, so erfuhr ich, habe eine Reihe von Preisen gewonnen, sie sei kreativ für drei und doch arm wie eine Kirchenmaus. Iris Malleks Markenzeichen ist, wie mir weiter berichtet wurde, die Nonkonformität. Den Sprung auf die großen Bühnen hat sie nicht geschafft oder nie angestrebt, vermutlich ist ihr das Kulturestablishment suspekt oder es mangelt ihr schlicht an diplomatischem Verhalten. Ihr temperamentvolles Auftreten löst in der Kulturszene Begeisterung oder Ablehnung aus. Wenn sie sich im Raum befindet, ist sie nicht zu überhören. – Tatsächlich musste ich, als ich sie anrief und sie mir einige Fragen zu ihrer Biografie beantwortete, einen gewissen Abstand zwischen Telefonhörer und Ohr herstellen.
Die äußerlichen Bedingungen ihrer Kindheit klangen nach Idylle. Ein großes Haus in einem kleinen Dorf, ein wunderschöner Garten. Doch dann warnte mich die dunkle Frauenstimme: Wenn ich Genaueres über ihre Eltern erfahren wolle, könne es für mich enttäuschend werden. Zwar habe der Vater ihrer Kindheit wie alle Männer jener Zeit einen Hut getragen, doch das wisse sie |69| nur von Fotos. Angeblich soll sie das Vaterkind gewesen sein, Vaters Liebling, aber sie besitze keinerlei Erinnerungen – die begännen erst mit ihrem zehnten Lebensjahr, nachdem die Mutter gestorben sei. »Über die ersten zehn Jahre mit meinen
Weitere Kostenlose Bücher