Nachkriegskinder
noch keinen Krebs.«
Die Großmutter nahm die Erziehungsgewalt, die sie über die vier Enkelinnen besaß, wörtlich. Sie kommandierte und schlug. Oma habe immer einen Grund gesucht und gefunden, um zu prügeln, wird mir berichtet. Der Vater sei feige gewesen. Er habe seine Kinder nicht geschützt, und die Mutter habe es wohl auch nicht getan, glaubt Iris. Wie gesagt, es gebe da keinerlei Erinnerung, aber in der Verwandtschaft erzähle man sich, Mutter und Großmutter seien stets einer Meinung gewesen und hätten Front gemacht gegen den Vater. Die Ehe der Eltern müsse ein Alptraum gewesen sein – »ein einziger Horror«, wie sie sich ausdrückt. Während einer langen Therapie habe sie das begriffen. Und natürlich auch dies: Ihre Amnesie ist alles andere als das Merkmal einer intakten Kindheit. In ihrem Gedächtnis sind Szenen von Dorffesten gespeichert, vom Spielen mit anderen Kindern, aber nichts von den Eltern. »Ich habe drei Jahre Analyse gemacht, drei Mal in der Woche auf der Couch, aber das hat nichts an Erinnerung gebracht. Manchmal dachte ich, ich bin nah dran, gleich geht das Licht an – und dann bin ich jedes Mal eingeschlafen.«
|72| Der Ehekrieg von zwei psychisch Kranken?
Ihre Eltern hatten sich Ende der vierziger Jahre kennen gelernt und im kurzen Abstand vier Kinder in die Welt gesetzt. Über ihren Ehekrieg lässt sich im Nachhinein nur spekulieren. Vielleicht waren beide traumatisiert gewesen: zwei psychisch Kranke, zwei seelisch Verletzte, die nichts anderes konnten, als sich gegenseitig zu verletzen. Die Mutter hatte bis 1945 als Krankenschwester in Riga gearbeitet und bei einem Bombenangriff ihren Verlobten verloren. Erich Mallek war in Stalingrad in Gefangenschaft geraten.
Bald nach dem Tod seiner Frau heiratete Erich Mallek ein zweites Mal und zog mit seiner Familie vom Dorf in die Kleinstadt. Zwischen der Stiefmutter, einer Kriegswitwe, und den vier Töchtern entwickelte sich ein vertrauensvolles Verhältnis. Ihrem zweiten Mann gegenüber verhielt sie sich passiv und geduldig. Für sie war er jemand, der Schweres durchgemacht hatte, und sie fand, es sei das Beste, seine Launen und Wutausbrüche auszuhalten und auf besseres Wetter zu hoffen.
In Sibirien sei der Vater gewesen, erzählt Iris, aber wie viele Jahre, das wisse sie nicht. Er habe darüber kaum gesprochen. Nur eines ist ihr in Erinnerung geblieben: »Er hat gesagt, als Gefangene seien sie besser ernährt worden als die Bevölkerung. Die Russen hätten am Lagerzaun um Essen gebettelt.« Seine erste Arbeitsstelle nach seiner Heimkehr war eine amerikanische Bank. Danach kam er als Buchhalter in einer Handelsfirma unter. Dort hatte er eine Vertrauensposition, dort blieb er ein Vierteljahrhundert, bis er in Rente ging. Im ganzen Ort habe man den Vater genommen wie er war, erinnert sich seine Tochter. »Er konnte ein Ekel sein, aber er hatte auch eine sehr soziale Seite.« Erich Mallek verstand es offenbar, sich unentbehrlich zu machen. Seine selbst gereimten Gedichte zu Hochzeiten und bei runden Geburtstagen wurden geschätzt. Für eine Reihe von Ortsbewohnern machte er die Buchführung.
|73| Stalingrad erwähnte er mit keinem Wort. Auch seine älteste Tochter wäre nie auf die Idee gekommen, dem Vater Fragen zu stellen. Stalingrad war eine Tatsache, kein Geheimnis, sie hatte immer schon davon gewusst. Doch eine andere Tatsache hatte sie völlig ausgeblendet: wie nah der Krieg in ihrer Kindheit noch war. »Heute denke ich oft: Der Krieg war zu Ende, da war ich gerade mal sechs Jahre. Das muss man sich mal vorstellen! Das ist doch keine Zeitspanne! Das muss doch damals für die Erwachsenen wie gestern gewesen sein. Aber so was begreift man eben erst, wenn man selbst älter ist.«
Das Rätsel mit den Panzern
Seit kurzem stellt sie sich Fragen zu den wiederkehrenden Alpträumen in ihrer Kindheit. Feuer kam darin vor, Häuser brannten, Menschen brachten sich schreiend in Sicherheit. Alle Traumsequenzen spielten sich in dem Dorf ab, in dem sie aufwuchs. Warum träumte sie immer vom Feuer, obwohl sie damit keinerlei Erlebnisse verband? Noch ein zweites Motiv tauchte auf. Es war ein Geräusch, das sie erst viele Jahre später identifizierte – das Knallen von Stiefeln im Gleichschritt. Und es gab einen weiteren beängstigenden Traum, der sie häufig heimsuchte. Da sah sie merkwürdige riesengroße Fahrzeuge auf sich zurollen. Zu einem Zeitpunkt, als sich die Alpträume schon aufgelöst hatten, erfuhr sie durch eine Fernsehsendung, dass
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