Nachkriegskinder
durchzuschlagen. Das waren sehr abenteuerliche vier Wochen, immer nur nachts marschiert, tagsüber zum Schlafen Löcher gegraben und mit Zweigen abgedeckt. Wir gerieten in das Aufmarschgebiet für die Offensive auf Berlin. Am 1. April Ostersonntag um 12 haben sie uns erwischt und am 9. Oktober 1949 bin ich nach Hause gekommen.
Also mehr als acht Jahre Krieg und Gefangenschaft …
Ja, als ich heimkam, war ich 25. Da konnte ich erst anfangen zu studieren. Ich meine, das darf man ja auch nicht vergessen: Nach dem Völkerrecht durfte es nicht sein, dass wir nach Kriegsende fünf Jahre als Zwangsarbeiter in der Sowjetunion festgehalten wurden. Wenn der Krieg zu Ende ist, müssen die Kriegsgefangenen entlassen werden. Das haben wir mit den Holländern gemacht, mit den Franzosen usw., in den früheren Stadien des Zweiten Weltkriegs.
Sie haben mir gegenüber erwähnt, Sie hätten Glück gehabt als Gefangener. Wieso?
Weil ich mich als Gefangener mit den Russen verständigen konnte. In Jugoslawien hatte ich eine Menge Serbokroatisch gelernt, und darauf konnte ich aufbauen. Ich habe sehr schnell Russisch gelernt. Ab Sommer 1946 bin ich im Büro tätig gewesen. Ab Januar 1947 kam ich nach Moskau, das war praktisch ein Lotteriegewinn, denn Moskau war besser mit Lebensmitteln versorgt als jeder andere Ort in der Sowjetunion. Einmal haben wir einen Hungerstreik gemacht, da kam sofort eine Kommission aus dem Innenministerium und hat unsere Lage überprüft. Insofern ist es uns sehr viel besser gegangen als den meisten anderen deutschen Gefangenen. Wir haben auch Hunger gehabt, aber wir konnten Geld verdienen. Unser Lager in Moskau funktionierte nach dem |103| Gulagsystem. Das heißt: Die Vorschriften, die im Gulag galten, galten auch für uns.
Wie kam es, dass Sie so gut über die Lagervorschriften Bescheid wussten?
Das erste Lager, in dem ich mich befand, wurde aufgelöst. Wir mussten uns nackt aufstellen und ein Arzt entschied, wer körperlich zu welcher Arbeit in der Lage war. Während dieser Phase gab einen Personalinspektor, der hat mich in seinem Büro eingeschlossen mit dem Auftrag, die Personalpapiere fertig zu machen. Da standen die ganzen Vorschriften im Schrank. Die habe ich mir angesehen und gut gemerkt. Ich wusste also, was sie mit uns Gefangenen machten durften und was nicht. In der ersten Nachkriegszeit waren viele Gefangene verhungert. Da gab es ganz harte Befehle, damit sich das nicht wiederholte. Zum Teil war das Theorie. Wenn Gefangene verhungert sind, lag das daran, dass es nichts oder zu wenig zu essen gab. Es wurden etwa eine Million Gefangene bei Kriegsende nach Russland transportiert, 15 Prozent sind gestorben.
Wo gingen Sie tagsüber arbeiten?
In Moskau vorwiegend im Wohnungsbau. Ich war »Arbeitsingenieur«, ich organisierte die Arbeit. Das war mein Glück. Ich musste nicht körperlich arbeiten.
Wie waren Ihre Kontakte zur russischen Bevölkerung?
Immer positiv. Die Kriegsgefangenen haben ja mit den Russen zusammengearbeitet. In meinem Fall war es eine Zeitlang eine sehr hübsche Ingenieurin. Mit ihr habe ich dann am besten Russisch gelernt. Wir haben auch heimlich miteinander geschlafen. Das war alles drin, nur nicht auf Dauer. Eines Tages schöpften sie Verdacht. Dann wurde es unterbunden, und ich habe sie nie wieder gesehen. Die Bevölkerung war immer sehr freundlich. Die alten Frauen haben uns Mut machen wollen, wenn sie bei jeder |104| Gelegenheit sagten: Es kann nicht mehr lange dauern – ihr kommt bald nach Hause. Und ich muss ganz ehrlich sagen: Wir haben die Russen bedauert. Denn wir haben gewusst: Eines Tages kommen wir nach Hause, aber sie müssen immer hier bleiben. Sie lebten unter armseligen Bedingungen, das hat man ja gesehen, sie wohnten zum Teil in großen Gemeinschaftsunterkünften, dazu der Zwang, dem sie ausgesetzt waren.
Wie sah Ihre finanzielle Lage als Gefangener aus?
Zuletzt, also ab 1947/48 einigermaßen. Wir bekamen maximal 150 Rubel für unsere Arbeit ausbezahlt. Das heißt: Es gab die Lagerverpflegung und von unserem Verdienst konnten wir uns zusätzlich Nahrungsmittel kaufen. Ein Brot kostete zu der Zeit 3 Rubel. Da hatte man keinen Hunger mehr. Ein Problem war die Kleidung. Die Schuhe gingen am schnellsten kaputt.
In wie vielen verschiedenen Lagern waren Sie?
In vier Lagern. Im Prinzip ging es mir immer besser. Zuletzt war ich im Wohnungsbau eingesetzt.
Was war denn für Sie das Schlimmste in der Gefangenschaft?
Die Unsicherheit.
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