Nachkriegskinder
unbescholtener Bürger erlangten. Doch die Rückschau verzerrt einen wesentlichen Aspekt der damaligen Realität. Sie übersieht, dass sich die ehemaligen Soldaten des Ausgangs ihres eigenen Verfahrens nicht sicher sein konnten. Viele Männer waren zutiefst beunruhigt und fragten sich, ob ihnen jemals ein normaler beruflicher Neubeginn gewährt werden würde. Von vielen Psychiatriepatienten wurde die Schuld an den Verbrechen des Krieges und des Holocaust nicht verdrängt. Die größte Angst der Heimkehrer war es, wieder »in ein Lager gesteckt« zu werden. Es lässt sich denken, wie sehr die Ehefrauen und vor allem die Kinder unter den verstörten Heimkehrern zu leiden hatten.
|100| INTERVIEW
»Ich rechne auf«
Herbert W., geboren 1924, über seine Gefangenschaft in Russland
Als ich mich aufmachte, um für dieses Buch ehemalige Wehrmachtsangehörige zu interviewen, kam ich fast zu spät. Die meisten alten Männer, die ich anrief, wollten von meinem Vorhaben nichts wissen, oder ihre Frauen hatten mir schon im Vorfeld erklärt, es rege ihren Mann zu sehr auf, man möge ihn bitte in Ruhe lassen. Ähnliches hörte ich von den Kindern noch lebender Soldatenväter: Dem Vater gehe es gesundheitlich nicht gut, und auch: Er versinke mehr und mehr in der Demenz. Doch schließlich gelang es mir, mit einem Mann Kontakt aufzunehmen, der mit 17 in den Krieg gezogen und mit 25 nach jahrelanger Gefangenschaft heimgekommen war. Herbert W. kann als Industriekaufmann auf erfolgreiche Berufsjahre zurückschauen. Mit 86 Jahren bewohnt er zusammen mit seiner Frau das Haus, in dem auch seine Kinder aufwuchsen.
Sie wurden 1924 geboren. Wann kamen Sie zur Wehrmacht?
Ich habe mich mit 17 Jahren freiwillig gemeldet, im Februar 1941. Wir alle in der Abiturklasse hatten Angst, dass wir den Krieg versäumen. Wir dachten ja, es müsste nur noch England geschlagen werden, und dann wäre der Krieg vorbei. Diejenigen, die sich freiwillig gemeldet haben, brauchten kein Abitur zu machen, sie bekamen den sogenannten Reifevermerk. Also bin ich am 12. Mai eingezogen worden und im August war ich schon in Russland.
Was hielten Ihre Eltern davon, dass Sie sich freiwillig gemeldet haben?
Mein Vater lebte nicht mehr. Meine Mutter war nicht sehr begeistert davon, aber sie hat schließlich nachgegeben. Ich brauchte ja ihre Zustimmung, ich war ja noch nicht volljährig.
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Wie sah Ihr erster Einsatz an der Front aus?
Ich wurde zur Artillerie einberufen und wurde als Kanonier am Geschütz eingesetzt. Ich war derjenige, der die Munition fertig machen musste. Wir waren zu fünft am Geschütz: ein Kellner, ein Bauer, ein Arbeiter und einer, der in Babelsberg eine Ausbildung beim Film machte. Es war für mich eine unglaubliche Erfahrung, denn mit dieser Art von Leuten hatte ich ja noch nie zu tun gehabt. Das ging bis Oktober, wir hatten Verluste. Danach waren wir vor Leningrad, den ganzen Winter 1941/42. Wir haben versucht Leningrad einzuschließen.
Das war also die Belagerung von Leningrad.
Ja nun, Leningrad ist nie vollkommen eingeschlossen gewesen. Nur die Eisenbahn- und Straßenverbindungen waren abgeschnitten. Im Osten gab es einen Zugang über den Ladogasee, im Winter übers Eis. Ab November, Dezember war der Krieg stationär. Wir lagen uns gegenüber. Es gab keine große Bewegung bei teilweise minus 50 Grad. Im Februar habe ich Gelbsucht gekriegt und den großen Zeh erfroren, weil es keine anständige Winterausrüstung gab, und bin dann nach Deutschland ins Lazarett gekommen. Die zweite Hälfte meiner Kriegszeit bin ich in Jugoslawien gewesen und habe dieselben Erfahrungen gemacht, die jetzt die Soldaten in Afghanistan machen: Partisanenkrieg.
Und wie lange waren Sie in Jugoslawien?
Bis August 1944. Dann kam ich zur Offiziersschule nach Großborn in Pommern. Vorher gab es vier Wochen Urlaub, unglaublich, eine große Ausnahme, zu diesem Zeitpunkt gab es keinen Heimaturlaub mehr. Aber ich ging jeden Tag bei herrlichem Wetter ins Strandbad. Ab September besuchte ich in Ostpommern die Artillerieschule und wurde zum Leutnant befördert. Ende Januar/Anfang Februar sollte die Schulung beendet sein, aber wegen der russischen Offensive gingen wir alle an der Ostgrenze bei Schneidemühl in Stellung. Anfang März wurden wir von den Sowjets |102| überrollt, aber nicht gefangengenommen. Ich hatte fünfzig Mann unter mir, die habe ich in Zehnergruppen aufgeteilt und gesagt, wir versuchen uns nach Westen bis zur deutschen Front
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