Nachkriegskinder
meiner Seite ein Misstrauen darunter. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht, und das hatte mit dem Krieg zu tun – aber im Grunde kannst du es dir nicht erklären.«
Die Tochter entwickelt ihren Gedanken weiter: Vielleicht konnte der Vater niemanden mehr liebevoll berühren, weil er beschämt war über das, was ihm widerfahren war und wozu er als Soldat fähig gewesen war. »Darum denke ich, dieser Abstand zu anderen Menschen, der hat mit seinen Erlebnissen im Krieg zu tun. Bei mir ist es genau umgekehrt. Ich fasse meine Kindern viel an – ich berühre sie einfach gern – während ich, als ich ganz klein war, schon mal in Vaters Bett geschlafen habe, aber danach, wie gesagt, gab man sich nur noch die Hand.«
Im hohen Alter erkrankte Anton Werk an Krebs. Als der Arzt ihn fragte: »Wie viel wollen Sie wissen«, antwortete er: »Nicht so |95| viel.« Seine Haltung war, die Krankheit einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen, im Sinne von: Mein Körper hat immer funktioniert und das wird auch künftig so sein. Seine Familie begleitete ihn während der letzten Tage und Stunden. Es war kein schweres Sterben. »Seine letzten Worte überraschten mich sehr«, berichtet Marion. »Er fragte meine Mutter, ›Wie geht es dir?‹ Das ist doch eigenartig. Nie habe ich das vorher von ihm gehört. Nie hat ihn interessiert, wie es seiner Frau geht.«
Sie glaubte, sein Tod würde keine große emotionale Lücke verursachen, weil zeitlebens so viel Abstand zwischen ihnen gewesen sei. Aber dann, als sie die Urne sah und an das bisschen Asche dachte, fing sie heftig an zu weinen und konnte sich kaum beruhigen. Sie fühlte sich an einen anderen schmerzvollen Abschied erinnert, als sie noch sehr klein war. Da hatten ihre Mutter und sie den Vater, als der eine Kur antrat, zum Bahnhof gebracht.
Ich frage sie: Als Tochter eines solchen Vaters lernt man doch vor allem eines – dass man Männer nicht ändern kann. War das in ihrem Fall auch so? Sie lacht auf. »Na klar, und dann habe ich mir ja auch den entsprechenden Partner ausgesucht. Das ist mir ganz spät erst bewusst geworden.« In den ersten zehn Jahren ihrer Ehe arbeitete Nikolaus Schlüter – ohne sie deshalb überhaupt gefragt zu haben – weit entfernt in einer anderen Stadt und kam nur am Wochenende heim. Das fand sie normal. Sie kannte nichts anderes. Kinder waren eben Frauensache. Dennoch kümmerte sich Nikolaus weit mehr um sie, als Marions Vater es getan hatte. Aber vielleicht nicht genug, räumt sie ein, denn ihr Mann und ihr Ältester hätten ein kompliziertes Verhältnis. Seit der Sohn als Junior in die Firma eingestiegen sei, habe es viel Streit gegeben. »Das hat dann dazu geführt, dass mein Mann und mein Sohn überhaupt nicht mehr miteinander gesprochen haben«, schildert sie die Situation. »Und eines Tages habe ich gesagt: Das geht so nicht weiter. Ich halte das nicht mehr aus, und unsere Mitarbeiter auch nicht.« Marion Schlüter bestand auf einem Familienseminar – alle fünf an einem Tisch. Ihr Vorschlag: Man werde einen |96| Supervisor und eine Familientherapeutin engagieren, und mit deren Hilfe solle dann herausgefunden werden, was in der Familie schief laufe.
Ein denkwürdiges Familienseminar
Es kam zu einer denkwürdigen Zusammenkunft, in der laut und heftig zur Sprache kam, was schon längst einmal hätte gesagt werden sollen. Zum Beispiel warf der Sohn seinem Vater vor: Du bist ein schlechter Vater! Du hast dich nie richtig um mich gekümmert! Mir gegenüber gibt Marion Schlüter zu, das habe sie überrascht und erschüttert, denn ihre Sichtweise und ihre Maßstäbe seien ganz andere gewesen. Früher hätten sich Väter nun mal kaum um ihre Kinder gekümmert. Sie habe den Vater ihrer Kindheit nicht als die große Ausnahme gesehen, fügt sie hinzu, er wäre ihr nur etwas extremer vorgekommen als andere. Aber sie verstehe, was ihr Sohn meine. Inzwischen hätten sich die gesellschaftlichen Standards hinsichtlich des Väterverhaltens sehr geändert. Weil sich ihr in jungen Jahren der Satz einbrannte: »Männer kann man nicht ändern«, hat sie es bei ihrem eigenen Mann erst gar nicht versucht. Er ist, wen wundert’s, ihrem Vater in einigen wesentlichen Punkten ähnlich. Hat sich Nikolaus Schlüter etwas in den Kopf gesetzt, dann hält er unbeirrt daran fest. Er muss immer etwas Neues aufbauen. Keine Expansion bedeutet für ihn Rückschritt. Die Rollen von Marion und Nikolaus Schlüter in der Firma sind aufgeteilt. Er ist der Kreative, sie hat die Ausgaben unter
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