Nachkriegskinder
Kontrolle. Und manchmal muss sie, obwohl sie neue Projekte grundsätzlich begrüßt und keineswegs risikoscheu ist, wie der Finanzminister sagen: Sorry, hier ist die Grenze!
Am Ende unseres Gesprächs fragt sie mich, wo sie über ihres Vaters Jahre im Krieg recherchieren könne. Vor allem würde sie interessieren, wo er überall gewesen sei und ob er tatsächlich ein kleiner Gefreiter geblieben sei. »Etwas Spektakuläres werde ich ja wohl kaum erfahren«, sagt sie. »Ich meine, dass er im Warschauer |97| Ghetto war, weiß ich ja.« Ich nenne ihr die WAST – die Wehrmachtsauskunftsstelle – und füge hinzu, dem Archiv müsse, da der Vater erst wenige Jahre tot sei, das Einverständnis ihrer Mutter und ihrer Schwestern vorliegen. In den meisten Familien, gebe ich noch zu bedenken, sei eine solche Übereinstimmung nicht zu erreichen. Doch Marion meint, für sie als Älteste dürfte das kein Problem sein: man werde ihr da schon freie Hand lassen.
Einzelne Sätze von Marion Schlüter klingen in mir nach, vor allem der unvergleichlich ruhige Tonfall, in dem sie vorgetragen wurden. Ich frage mich, ob sie ihre Art zu reden im Umgang mit ihrem Vater erwarb. Wie anders als mit Ruhe und Gleichmut hätte sie sich bei einem Menschen Gehör verschaffen können, der mit einem so hohen Erregungslevel ausgestattet war?
Untersuchung über Heimkehrer
Aus meiner Kindheit in den fünfziger Jahren fallen mir mühelos ein halbes Dutzend Männer ein, darunter auch Lehrer, die sich so verhielten wie Anton Werk. Von den Erwachsenen wurden sie in Schutz genommen, was mir als Kind merkwürdig vorkam, bis ich begriff, dass man Mitleid mit ihnen haben musste. Krieg, Gefangenschaft, Hirnverletzung, das waren die Stichworte. Hier nun die Zahlen: Elf Millionen deutsche Gefangene bei Kriegsende, davon drei Millionen in sowjetischen Lagern.
Die Historikerin Svenja Goltermann hat die psychische Verfassung von Heimkehrern aus russischer Gefangenschaft untersucht, indem sie Psychiatrieakten der Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, Bielefeld, auswertete. Sie stammen aus den Jahren 1945-1949. Das Wesen ihrer Funde beschreibt sie als »Das Gedächtnis des Krieges«, ihr Buch heißt »Die Gesellschaft der Überlebenden«.
Der Blick auf die Soldatengeneration war lange Zeit getrübt durch Klischees, wonach die Männer entweder als die Vollstrecker der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik galten oder |98| selbst nichts anderes als Opfer eines Gewaltregimes waren. Heute, meint die Historikerin, werde zunehmend gesehen, dass Menschen Täter sein konnten und auf einer ganz anderen Ebene auch Opfer.
Die Gewalterfahrung des Krieges ist in den zahlreichen Krankenakten präsent. Ein Arzt notierte über einen Patienten, den er ein Jahr zuvor nach Hause entlassen hatte, eine drastische Verschlimmerung seines Zustandes und wie verbittert seine Frau war: »Er nörgelt zu Hause herum, sieht alles schwarz in schwarz, macht sich Sorgen, wo keine sind, und tyrannisiert die Familie mit seiner ekelhaften Pedanterie.« 13 Doch wurden die Psychiatriepatienten mit ihren seelischen Verletzungen von der Gesellschaft weitgehend allein gelassen. Noch in den fünfziger Jahren war es für die Mediziner kaum denkbar, dass der Auslöser für eine psychische Erkrankung etwas anderes sein konnte als eine schwere organische – und damit messbare – Schädigung. Im Klartext hieß das: Ein gesunder Körper verursacht keine seelischen Störungen, da mussten dann andere Faktoren ausschlaggebend sein, vererbte Belastungen oder eine grundsätzlich labile Befindlichkeit.
Ein Patient mit tiefgreifenden psychischen Veränderungen, dessen Körper jedoch keine Spuren von Gewalt oder doch wenigstens von lang anhaltenden Strapazen aufwies, war also nicht etwa kriegstraumatisiert, wie es uns heute so selbstverständlich von den Lippen geht, sondern es wurde eine »anlagebedingte« Ursache für seine Störungen verantwortlich gemacht. Vor allem für die Holocaustüberlebenden hatten derartige medizinische Glaubenssätze böse Folgen, denn damit argumentierten deutsche Gutachter vor Gericht, wenn es darum ging, Rentenansprüche und Wiedergutmachungsleistungen abzuwehren.
In den Psychiatrieakten der Heimkehrer finden sich einige Aussagen, die für die gesamte westdeutsche Gesellschaft in den ersten Nachkriegsjahren von Bedeutung waren, aber bis heute kaum wahrgenommen werden. Beispiel Entnazifizierung: Im Rückblick |99| zeigt sich, wie mühelos die meisten Täter und Mittäter den Ruf
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