Nachkriegskinder
Kriegsenkeln ein Buch über die Nachkriegskinder, deren Eltern der Kriegsgeneration angehörten, empfehlen könne? Er sei 1953 geboren. – Ich schrieb zurück: »Sehr geehrter Herr Holdt, das Buch, nach dem Sie fragen, müsste ich selber schreiben. Tatsächlich überlege ich das schon eine ganze Weile. Könnte ich deshalb einmal mit Ihnen telefonieren?«
Wir verabredeten uns zu einem längeren Telefongespräch. Was er von sich erzählte und die Art und Weise, wie er sich präsentierte, machte mich neugierig: ein durchaus selbstbewusster Hartz-IV-Empfänger, ehelos, kinderlos, mit einer »Fernbeziehung« in Schwerin – er selbst wohnt in Würzburg. Als Architekt hatte er nie eine berufliche Heimat gefunden. Im Angestelltenverhältnis hatte er sich stets »fremdbestimmt« gefühlt, aber eine eigene Firma wäre für ihn auch nicht in Frage gekommen. Er klagte nicht über die geringe staatliche Unterstützung, wie man es sonst überall hört, sondern vermittelte mir die für ihn positiven Aspekte: »Arbeit war für mich vor allem Belastung. Hartz IV dagegen ist eine Form von Freiheit«.
Er wuchs im westlichen Harz auf, in einem Ort mit 2000 Einwohnern nahe der DDR-Grenze, die dort bis zum Mauerfall noch Zonengrenze hieß. Drei Generationen wohnten zusammen auf einem Bauernhof, den der Urgroßvater gebaut hatte. Es gab einen großen Garten, Kaninchen, Ziegen, Hühner und Katzen. »Noch heute«, verriet mir Manfred Holdt, »kann ich an keiner Katze vorbeigehen, ohne sie anzusprechen, wobei Katzen da ja nicht immer reagieren.«
|118| Er beschrieb durchaus übliche Nachkriegsverhältnisse: eine Familie, die zunächst noch sehr arm ist, angespannte Eltern, der Vater Sachbearbeiter im öffentlichen Dienst, die Mutter Hausfrau, drei Kinder, dazu eine strenge, sparsame Großmutter und ein herrschsüchtiger Großvater, der aber – zumindest außer Haus – auch lebensfrohe Seiten zeigte. Manfred Holdts Stimme klang verhalten, aber nicht zögerlich, sondern eher nachdenklich. Bei einem zweiten Telefonat sagte ich ihm, ich sei an einem längeren Gespräch mit ihm für mein Buchprojekt interessiert und nannte ihm meine Arbeitsweise: Ich würde ihn in Würzburg besuchen, ihm danach den Text schicken mit der Bitte, ihn nach seinen Wünschen zu ändern und schließlich zu autorisieren. Zu diesem Zeitpunkt, fügte ich hinzu, könne er seine Geschichte aber immer noch zurückziehen. Manfred Holdt meinte, er finde diesen Rahmen unserer Zusammenarbeit »fair«. Nachdem er eine Nacht darüber geschlafen hatte, sagte er zu.
Dass Manfred Holdt arm ist, sieht man ihm in keiner Weise an. Zu unserer Verabredung in einem Würzburger Café erscheint ein dunkel gekleideter, schlanker Herr mit einem eleganten Hut. Es hätte mich nicht gewundert, ihn aus einer Limousine steigen zu sehen. Erst beim zweiten Hinsehen erkenne ich seine sportliche Kleidung, und tatsächlich ist er mit dem Fahrrad gekommen, direkt von einer Aktion für bessere Radfahrbedingungen in Würzburg, zu deren Initiatoren er gehört.
Ohne haltbare Freundschaften
Schon als Student engagierte er sich für Umweltfragen, im Architekturstudium stand Energiesparen im Hausbau im Mittelpunkt seiner Interessen. Davon erzählt er lebhaft und anschaulich. Dass sein starkes Engagement für umweltschonendes Bauen einem erfüllten Berufsleben im Wege gestanden habe, glaubt er nicht, die Ursache sei wohl eher sein Defizit im Umgang mit Menschen gewesen. Schon während seiner Schulzeit habe er, da die Klasse vor |119| allem aus Fahrschülern aus verschiedenen Landkreisorten bestanden habe, keiner Clique angehört. Auch an der Universität, fügt er hinzu, habe er keine Peergroup gefunden und erst recht keine haltbaren Freundschaften geschlossen. Nie habe er Mentoren gehabt.
Seine Stimme verliert an Kraft, es fällt ihm nicht leicht, in dieser Weise über sich zu sprechen. Aber wem ginge es in seiner Situation anders? Er ist kein Alphatier, wie sein Großvater es war, sondern ein feinsinniger, reflektierter Mann, der sich in Woody-Allen-Filmen wiedererkennt. »Ich war im Beruf auch ungeschickt im Umgang mit Vorgesetzten, Kollegen und Auftraggebern«, räumt er ein. »Heute habe ich nur einen Freund, und den kenne ich schon seit 40 Jahren.« Er unterbricht seinen Gedanken, um bei der Kellnerin einen Kaffee zu bestellen und fährt dann fort: »Ich habe eben nie gelernt, wie man als erwachsener Mann Kontakte aufbaut und pflegt. Vielleicht liegt es auch daran, dass mir das schnell zu viel
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