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Nachkriegskinder

Nachkriegskinder

Titel: Nachkriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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individuelle Empfinden, was ist ein Verbrechen und was nicht, hat mit den rechtlichen Regeln nur wenig zu tun. Jeder Soldat hat das Kriegsrecht gebrochen, allein schon dadurch, dass er sich am Angriff auf die Sowjetunion beteiligt hat. Dann der Arbeitseinsatz der russischen Bevölkerung, auch die Plünderungen. Natürlich sagten die deutschen Soldaten: Wir haben Hunger, wir holen uns jetzt das Schwein vom russischen Bauern, auch wenn die Bevölkerung in Folge davon verhungerte. Das wurde nicht als Verbrechen wahrgenommen.
     
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Was sagt die Forschung zu der These: Deutschland musste die Sowjetunion angreifen, andernfalls hätte Stalin uns angegriffen?
    Die seriöse Geschichtsforschung ist hier eindeutig: An der Präventivkriegsthese ist aus unserer Sicht nichts dran. Im Sommer 1941 haben die Deutschen mit Sicherheit keinen Präventivkrieg geführt. Aber interessant ist in diesem Zusammenhang etwas anderes. Betrachten wir uns Deutschland aus der Sicht des Jahres 1940/41, vor dem Holocaust. Es herrschte ein totalitäres Regime, das seine Gegner wegschloss, das einige Tausend umgebracht hatte, wie das viele andere autoritäre Regime auch machten – doch die Massentötungen, die fanden vermeintlich nur im Russland der zwanziger und dreißiger Jahre statt, die großen Säuberungen, der große Hunger und so weiter. Die bolschewistische Sowjetunion war in vielen Staaten Europas das Feindbild schlechthin, nicht nur in Deutschland, auch bei den Westmächten. Die Sowjetunion war verankert als das Reich des Bösen und eben auch die Vorstellung: Wir müssen jetzt gegen das Reich des Bösen kämpfen.
     
    Also, ehe sie das Böse in unser eigenes Land hineintragen …
Ja, das ist ein Topos, der in elitären Zirkeln in Rom, Paris, London, Berlin und Washington salonfähig gewesen ist. Das sagen mir auch ganz viele Zeitzeugen: »Ja, aber wir haben doch Europa vor dem Bolschewismus verteidigt.«
     
    Und viele Zeitzeugen sagen noch heute »Der Holocaust war nicht einmalig.« Was sagen Sie?
    Die Historiker sehen den Zweiten Weltkrieg als außergewöhnlich in vielen Punkten und besonders natürlich den Holocaust. Viele genozidale Verbrechen entstanden aus der Situation heraus. Beim Holocaust aber kann man eindeutig die Intention nachweisen. Dem Holocaust ging ein langer Plan voraus. Die Art und Weise der Umsetzung ist eine Einmaligkeit. Wenn jemand das leugnet, glaubt er, der Zweite Weltkrieg war eigentlich ein normaler Krieg. Er war natürlich nicht normal, auch auf Grund der Massentötung |187| der russischen Kriegsgefangenen. Es sind ja in Russland mehr sowjetische Kriegsgefangene umgekommen als Juden.
     
    Wie viele?
    Weit über 50 Prozent. Dagegen lag die Todesquote der Gefangenen bei den Westalliierten zwischen 0,5 und maximal 3 Prozent. Und man muss ganz klar sagen: Diese Gefangenenlager unterstanden der Verantwortung der Wehrmacht. Die deutschen Soldaten haben die Behandlung der russischen Kriegsgefangenen sehr viel unmittelbarer mitbekommen als die Massenerschießungen von Juden hinter der Front. Das schlägt sich auch stärker in den Abhörprotokollen nieder als der Holocaust, unterstützt dadurch, dass man nun selbst in Gefangenschaft war und sich freute, in amerikanischer Gefangenschaft zu sein und nicht in russischer.
     
    Allein an der verbrecherischen Behandlung russischer Kriegsgefangener mussten doch die deutschen Soldaten erkennen: Dies ist kein normaler Krieg. Gab es einen Zeitpunkt, zu dem diese Erkenntnis immer häufiger auftauchte?
    Nein. Wenn wir die Abhörprotokolle lesen, fragen wir uns immer: Die Soldaten müssen doch merken, dass sie Teil eines weltanschaulichen Vernichtungskrieges sind. Nein, tun sie nicht. Darüber reden sie nicht. Sie töten Soldaten, sie sehen auch, wie Juden umgebracht werden, sie fragen sich aber nicht: Wenn jetzt hier in Babi Jar 30.000 Juden erschossen werden, ist das nicht ein ganz anderer Krieg, den wir führen, ein anderer Krieg als in Frankreich? Das sehen sie nicht. Sie sehen, dass der Krieg verlustreich ist, dass die Bedingungen hart sind, die Winter vor allem. Aber dass dieser Krieg völlig andere Ziele verfolgt als der Erste Weltkrieg, dass es um eine rassistische Neuordnung Europas geht, das sehen sie gar nicht – bis auf einen ganz kleinen Anteil. Ich würde also sagen, dass die Allermeisten, die einfachen Soldaten ganz besonders, überhaupt nicht begreifen, um was es geht. Wir, |188| die Nachgeborenen müssen erkennen, dass die Soldaten es natürlich hätten wissen

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