Nachkriegskinder
Rolle spielte das persönliche Leid in den Gesprächen?
Aus den Abhörprotokollen geht hervor, wie oft Soldaten davon reden, was sie erlitten, durchlitten haben, zum Beispiel im Winter 1941/42 vor Leningrad. Es geht um Hunger, Gewalt, Entbehrungen. Sie sprechen aber nicht davon, was die Belagerung für die Bevölkerung von Leningrad bedeutete. Sie sind in aller Regel unpolitisch. Weltanschauliche Unterschiede spielen keine Rolle. Ein Nationalsozialist und ein Kommunist haben das Kämpfen, Töten und Sterben sehr ähnlich wahrgenommen, obwohl sie politisch völlig unterschiedlicher Meinung waren, obwohl sie den Sinn des Krieges in unterschiedliche Kontexte stellten, der eine sah die Neuordnung Europas vor sich und der andere stellte sich vielleicht vor, die Nazis nach dem Krieg fortzujagen. Wie sie den Krieg wahrnehmen, was sie wahrnehmen und wie sie sich im Krieg verhalten, das ist dagegen völlig identisch. Die Ideologie spielt eine viel geringere Rolle als bislang angenommen.
Und die sozialen Unterschiede?
Auch die Milieus verschwinden. Der Arbeiter und der Bürgersohn sind sich im Graben sehr ähnlich, wenn sie über den Krieg reden – nicht aber, überspitzt formuliert, wenn sie über Goethe reden. |184| Der Krieg, die akzeptierten Regeln, der Gehorsam, all dies schafft neue Rahmen. Und diese Rahmen machen eine Gewaltausübung möglich, die man sich als Zivilist nicht vorstellen kann. Aber das ist eben normal für die Soldaten. Das ist nichts Besonderes, so ist Krieg eben. Darum redet man nicht darüber, weil das so normal ist – weil man beim Frühstück auch nicht über das Essen des Frühstückseis redet. Es ist die Banalität des Krieges, die uns in den Abhörprotokollen begegnet. Die Menschen verhalten sich im Krieg sehr viel konformer als im Frieden. Das Interessante an unseren Quellen ist, dass sie zu ihren Kameraden sprechen. Sie reden untereinander völlig anders als sie mit ihren Frauen reden würden. Sie reden zum Beispiel über Sex, auch über Vergewaltigungen, das finden Sie in den Feldpostbriefen natürlich nie.
Bei meinen Gesprächen mit den Kindern von Wehrmachtangehörigen traf ich immer wieder auf die Befürchtung, der Vater könne als Soldat auch ein Vergewaltiger gewesen sein. Wie wahrscheinlich war das?
Man darf sich das nicht so vorstellen, dass die Wehrmacht vergewaltigend durch Europa gezogen ist. Auch hier kommt es wieder auf den Referenzrahmen an. Es war akzeptiert, Partisanen zu erschießen. Die Vergewaltigung einzelner Frauen, das war möglich, aber nicht in großen Zahlen. Die Manneszucht war im Referenzrahmen des Soldaten ein ganz wichtiger Punkt. Vergewaltigungen und Plünderungen haben, soweit ich das überblicke, ein gewisses Maß nicht überschritten. Und das war etwa bei der Roten Armee anders. Wir haben drei Phänomene von Massenvergewaltigungen im Zweiten Weltkrieg: Die Japaner in China, die Marokkaner und Algerier in Süditalien, die auf Seiten der Westalliierten gekämpft haben und eben die Rote Armee in Deutschland. Und hier ich muss allgemeiner werden und sagen: die Völker der Sowjetunion. Denn interessanterweise haben jene, die in deutschen Uniformen gekämpft haben, auch vergewaltigt, zum Beispiel die Kosaken in Jugoslawien, dort ist es auch zu Massenvergewaltigungen gekommen. |185| Die russischen Soldaten haben sogar ihre eigenen Soldatinnen und Polinnen vergewaltigt. Meines Erachtens haben wir es hier mit einem kulturell genormten Phänomen und weniger mit Vergeltung für deutsche Verbrechen zu tun.
Was wurde von den deutschen Soldaten als Verbrechen wahrgenommen, und was gehörte sozusagen zum normalen Kriegsgeschehen?
Wenn wir heute nach Verbrechen fragen, dann in unserem rechtlichen Rahmen, also der Genfer Konvention und der Haager Landkriegsordnung. Dies ergab aber im Alltag der Soldaten nur einen sehr vagen Rahmen. Konkret wurde Verbrechen danach definiert, was emotional als Verbrechen empfunden wurde. Wir sehen, dass es in Russland zu Gewalteruptionen kommt, wenn die Kämpfe sehr hart werden, wenn die Verluste steigen. Dann verändert sich auch das Empfinden, was an Gewalt erlaubt ist und was nicht. Ähnlich, wie wenn man auf der Autobahn geschnitten wird, da steigert sich die Gewaltbereitschaft manches friedlichen Bürgers, weil er sich angegriffen und bedroht fühlt, obwohl die Straßenverkehrsordnung sagt, es ist in dieser Notlage sogar rechtens gewesen, jemanden zu schneiden, um einen schlimmen Unfall zu verhindern. Das heißt: Das
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