Nachkriegskinder
große Beschützerin«. Hinter dem Rücken des Vaters verbündete sie sich mit ihren vier Kindern – dem offenen Konflikt fühlte sie sich nicht gewachsen. Als Ute vom Tod ihres Vaters erfährt, kann sie ihr Glück nicht fassen: Sie ist ihn endlich los – wie oft hat sie sich das gewünscht! Vorbei ist die Zeit mit einem Vater, der seine Kinder nur mit Geringschätzung behandelte. »Ihr seid zu laut, ihr gehorcht nicht, ihr vergesst eure Pflichten, ihr helft nicht im Garten, ihr seid dumm, ihr habt eine Zwei geschrieben statt einer Eins«, zitiert ihn seine Tochter und fügt hinzu: »Endlich war diese Vorwurfsmaschine still.« 28 Bei seiner Beerdigung |177| bekommt Ute einen hysterischen Lachanfall, der ihr entsetzlich peinlich ist.
Wie mit neuem Sauerstoff versorgt
Als das Buchprojekt zu einem Abschluss gekommen war, hörten Ute Scheubs Alpträume auf. Am Tag, nachdem sie das Manuskript zu Ende geschrieben hatte, hielt sie sich zufällig in Stuttgart auf, dort, wo ihr Vater sich das Leben genommen hatte. »Ich schlief schlecht und viel zu kurz in dieser Nacht«, erzählt sie. |179| »Aber jedes Mal, wenn ich aufwachte, fiel mir etwas Spezielles ein, das ich mit der Arbeit am Buch zu einem Ende gebracht hatte. Und ich dachte: ABGEHAKT. Ein Rätsel, das gelöst wurde: ABGEHAKT. Und noch ein Punkt: ABGEHAKT. So ging es bis zum Morgen. Und trotz des Schlafmangels bin ich mit einer ungeheuren Energie aufgewacht. Wie mit neuem Sauerstoff versorgt. Ein starkes körperliches Gefühl. Das Buch hat mich ein Stück weit geheilt. Mein Eindruck ist: Das Gehirn hat sich umstrukturiert während meiner Recherchen.«
Fazit: Das große Schweigen kann noch viele Jahrzehnte später beiseite geschoben werden. Die Bücher von Ute Scheub und Michael Brenner machen dazu Mut.
INTERVIEW
»Die Wehrmacht war Teil des verbrecherischen Systems«
Der Historiker Sönke Neitzel über die Protokolle des Unsagbaren
Der Historiker Sönke Neitzel, geboren 1968, ist Professor an der Universität Mainz. Mehrere Bücher hat er zum Ersten und Zweiten Weltkrieg veröffentlicht. Im Frühjahr 2011 erschien das Sachbuch »Soldaten – die Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben«, von Sönke Neitzel und Harald Welzer – und galt umgehend als Sensation. Der Hintergrund: Amerikaner und Briten hatten deutsche Soldaten aller Dienstgrade in der Gefangenschaft abgehört. Die wissenschaftliche Auswertung der Abhörprotokolle offenbart, was die Männer damals dachten, was sie wahrnahmen und was sie ausblendeten, und was sie ihren Frauen und ihren Kindern später
nicht
erzählten. »Dokumente des Grauens« wurden die Protokolle in einer Rezension genannt. Sie ergeben eine Mentalitätsgeschichte der Wehrmachtsangehörigen, die nach 1945 in Schweigen verfielen.
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Was erfahren wir, wenn wir heute mit betagten deutschen Kriegsteilnehmern reden?
Wir erfahren vor allem, wie ein junger Mensch von vielleicht 18 Jahren den Krieg wahrnimmt, was er auch ausblendet, und neben dieser Ausblendung bleibt ein Restbestand an Erinnerungsstücken übrig, und an die erinnert er sich 65 Jahre danach. Wir glauben vielleicht: Der lügt. Aber das tut er nicht. Wir können also bei den Berichten Rückschlüsse auf das ziehen, was die Leute zeitgenössisch ausgeblendet haben. Menschen haben eine ganz sektorale Wahrnehmung und die bleibt in der Erinnerung hängen. Auf uns Historiker wirkt die meist verstörend, weil wir ganz andere Kontexte herstellen – ganz andere Fragen stellen. Aber diese Fragen hat man sich vor 65 Jahren nicht gestellt.
Offenbar ist es für Menschen hilfreich, sich auf diese Weise zu erinnern. Warum ist das so?
Es geht dabei um positive Sinnstiftung, wie bei jedem Menschen – um eine Sinnstiftungskonstruktion, wie wir sie alle haben. Natürlich sieht die Forschung viele Dinge anders. Das ist aber auch nicht erstaunlich, denn wenn wir beide über unsere Jugendzeit sprechen und ein Historiker in dreißig Jahren darüber redet, wird der auch sagen: So, wie ihr das seht, so ist das nicht gewesen.
Warum, zum Beispiel, spricht ein ehemaliger Wehrmachtangehöriger viel über seine Erfahrungen in der Gefangenschaft, aber nur wenig über die an der Front?
Wohl deshalb, weil er sich in der Gefangenschaft als Opfer sieht. Die übliche Konstruktion ist, dass sich Soldaten nicht als Täter sehen, logischerweise nicht, auch wenn sie Täter waren. Es wird eben zuerst das eigene Leid gesehen, und das war häufig in der Gefangenschaft am größten.
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