Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachkriegskinder

Nachkriegskinder

Titel: Nachkriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
Vom Netzwerk:
Das bleibt in der Erinnerung hängen. Häufig träumen diese Männer von der Gefangenschaft, aber nicht von der Zeit, als sie daran beteiligt waren, hunderte oder tausende |181| Soldaten und Zivilisten umzubringen. Das wird ausgeblendet. Der Tod der anderen kommt oft gar nicht vor.
     
    Wir Nachgeborenen können uns kaum vorstellen, dass man als Wehrmachtsoldat nichts von Massenerschießungen hinter der Front gewusst hat. Aber genau das wurde uns immer wieder versichert. Wie ist der Stand der Forschung heute?
    Die Forschung sagt, man hätte es wissen können. Ein wesentlicher Teil der Ermordung der Juden fand in Russland durch Massenerschießungen statt. Ein anderer Teil der Ermordung geschah in Vernichtungslagern. Natürlich ist es theoretisch denkbar, dass jemand, der als Soldat an der Ostfront eingesetzt war, nicht von den Massenerschießungen gehört hat. Es ist theoretisch denkbar, aber extrem unwahrscheinlich. Wir können gerade in den Abhörprotokollen nachweisen, wie schnell diese Gerüchte rumgingen. In den Abhörprotokollen zeigt sich: Wenn jemand von der Judenvernichtung redet, ist niemand erstaunt. Man redet über das wo oder wie, aber keiner sagt: Das glaube ich nicht.
     
    Und wie sah es in der Zivilbevölkerung aus?
    Da sagt die Forschung: Jedem war klar, die Juden kommen weg! Jeder in Deutschland konnte wissen: Sie kommen in den Osten. Jeder wusste, sie erwartet dort ein schlimmes Schicksal. Aber kommen wir noch mal auf den Wehrmachtsangehörigen zurück:
    Entscheidend ist, dass er hochwahrscheinlich damals von der Massenvernichtung gewusst hat. So ähnlich, wie wir heute wissen, dass es einen Klimawandel gibt.
     
    Das müssen Sie mir bitte erklären.
    Gern. Wenn Sie im stolzen Alter von 85 Jahren ein lebensgeschichtliches Interview geben sollten, da wird Ihnen vermutlich gesagt werden: Aber Frau Bode, im Jahr 2010, da wussten Sie doch vom Klimawandel. Warum haben Sie dann nach Berlin das Flugzeug benutzt? Da werden Sie wahrscheinlich sagen – ähnlich |182| wie alle deutschen Veteranen: Das habe ich gewusst, aber so klar, wie wir das heute sehen, war das damals nicht, es gab ja auch Gegenstimmen, das heißt also: In Ihrer sozialen Realität spielte das überhaupt keine Rolle. Übertragen wir das mal auf einen Soldaten im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront: Für ihn ist es wichtig, ein guter Soldat zu sein und zu überleben. Und da ist es – platt gesprochen – völlig unwichtig, ob die Juden erschossen werden oder nicht, es geht in sein Bewusstsein nicht wirklich ein.
     
    In diesem Zusammenhang würde ich gern mehr über das Entstehen Ihres Buches »Soldaten – die Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben« erfahren.
    Deutsche Soldaten sind in großer Zahl in britischer und amerikanischer Gefangenschaft abgehört worden. Die höheren Ränge, die Offiziere, sind in England abgehört worden, und die »ordinary men« eher in den USA. Wir beschäftigen uns in diesem Buch mit den »ordinary men« – den ganz normalen Soldaten der unteren Ränge. Die Abhörprotokolle umfassen viele 10   000 Seiten. Einen solchen Quellenstand kann man als Einzelner gar nicht auswerten, weil man Jahre brauchen würde, um es zu lesen. Eine Forschergruppe von Sozialpsychologen und Historikern haben dieses Material unter der Leitung von Harald Welker und mir ausgewertet. Es geht in diesem Buch darum zu rekonstruieren, wie Soldaten den Krieg wahrgenommen und wie sie ihn gedeutet haben. Wir haben dafür das theoretische Modell eines Referenzrahmens entwickelt. Damit kann man meines Erachtens viel besser verstehen, wie sich im Jahr 2010 Soldaten erinnern: dass sie nicht lügen oder bewusst die Unwahrheit sagen, sondern wenn man die Erinnerung heute und den Referenzrahmen damals abgleicht, dann erkennt man starke Parallelen.
     
    |183|
Was haben Sie herausgefunden?
    Soldaten sind vor allem von ihrer sozialen Nahwelt bestimmt. Sie wollen den Krieg ausführen, so wie sie davor auch ihre Arbeit gut ausgeführt haben. Sie akzeptieren ihn, sie akzeptieren auch das Wertesystem, und danach funktionieren sie. Und danach üben sie Gewalt aus. Der Krieg schafft einen neuen Rahmen der Gewaltausübung – aber das ist völlig normal für sie, das ist nichts Außergewöhnliches. Deshalb werden die Geschehnisse auch nicht als außergewöhnlich empfunden. Als außergewöhnlich wird nur empfunden, wenn die soziale Nahwelt massiv beeinträchtigt wird, zum Beispiel die eigene Gefangenschaft. Da ist man auf einmal ein Opfer.
     
    Welche

Weitere Kostenlose Bücher