Nachkriegskinder
17-jährige Soldaten konnten nach Buchenwald versetzt werden, dort 14 Tage Wachdienst machen, und dann mussten sie wieder an die Front zurück. Das führte dazu, dass das Rahmenpersonal der Waffen-SS in einem wesentlich höheren Maß ideologisiert war, auch brutalisiert war. Es geht bei der Waffen-SS nicht nur um Tapferkeit und Pflichterfüllung. Fanatismus und Opfertum spielen eine weit größere Rolle als in der Wehrmacht, was zum Beispiel dazu führt, dass sie sehr viel häufiger bis zum letzten Mann kämpfen. Und es zeigt sich eben auch: Die schlimmsten Verbrechen sind von der Waffen-SS begangen worden. Zumindest wissen wir das aus Frankreich, aus Italien – über Russland wissen wir leider noch viel zu wenig.
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Wie schlägt sich die SS-Zugehörigkeit in den Abhörprotokollen nieder?
Wenn SS-Leute miteinander über Verbrechen sprechen, reden sie brutaler, reden unmittelbarer über die Gewalt als die Wehrmachtleute. Das heißt nicht, dass jeder einzelne SS-Mann genau so gewesen ist. In der SS waren Männer wie Günther Grass bis hin zu Theodor Eike, der das KZ-System 1933 entwickelt hat. Also vom Massenmörder bis zum Nobelpreisträger finden Sie in der Waffen-SS alles. Noch mal: Wir finden auch Nazis in anderen Einheiten, wir finden auch Verbrecher in anderen Einheiten, wir finden auch Menschen, die bis zur letzten Patrone kämpfen in anderen Einheiten, aber in dieser Zusammensetzung sind sie in der Waffen-SS einmalig. Allerdings müssen wir unterscheiden: Sind das junge Leute gewesen, die im Oktober 1944 von der Luftwaffe im Schnellkurs dahin versetzt wurden oder haben sie sich 1933 freiwillig gemeldet. Da gibt es natürlich sehr unterschiedliche Biografien, und natürlich sagt jeder SS-Mann, wir waren Soldaten wie andere auch, wir haben nichts getan.
Und alle Soldaten sehen sich als Opfer?
Wenn Sie mit Überlebenden des Zweiten Weltkriegs reden, sagen das alle. Man hat nur mit Opfern zu tun. Alle waren nicht schuldig. Harald Welzer hat das so schön herausgearbeitet in seinem Buch »Täter«: Auch der Vergewaltiger sagt ja, er ist nicht schuldig, der Mörder auch nicht, sondern es wird immer so konstruiert, dass man irgendeinen Grund hatte, das zu tun, was man tat. Kann man auch nicht anders erwarten. Jeder Mensch will eine positive Sinnstiftung haben, und daher sagt niemand: Ich bin schuldig. Ein Topos der Familienerzählung ist ja immer: Der Vater, der Opa war in Russland, es war kalt und es war schlimm. – Der Krieg ist etwas Unsagbares. Nur unter Kameraden war das anders, die verstanden das. Darum sind die Abhörprotokolle so interessant.
|192| Als ich Menschen aus den Jahrgängen der Nachkriegskinder zu ihren Vätern interviewte, war das Buch »Soldaten« noch nicht erschienen. Ich konnte noch nicht wissen, wie gut meine biografischen Geschichten durch die Protokolle ergänzt werden würden: dass es sich um die O-Töne der Vätergeneration handelt, die damit posthum ihr Schweigen bricht. Die Protokolle offenbaren aber auch, warum die Männer schwiegen. Wie soll man das, was zum Kriegsalltag gehörte, seinen Kindern erklären? Wie soll man ihnen beibringen, dass sich die Hemmung zu töten innerhalb weniger Fronttage verflüchtigt und dass es Spaß machen kann, Bomben auf Zivilisten zu werfen? Kann man den eigenen Kindern vermitteln, dass eine gelegentliche Vergewaltigung ein Kavaliersdelikt war, und dass die Judenvernichtung unter Soldaten keine Erschütterung hervorrief, sondern man sich schlichtweg nicht sonderlich dafür interessierte?
Als ich den Roman »Die Wohlgesinnten« von Jonathan Littell las, kam ich oft an die Grenze dessen, was ich glaubte ertragen zu können. In den fiktiven Memoiren eines ranghohen SS-Mannes werden nicht nur die NS-Verbrechen im Osten detailliert beschrieben, sondern auch der Berufsalltag der Massenmörder: was sie taten, was sie sahen, und wie sie darüber als Intellektuelle schwadronierten. Eine Steigerung des Unerträglichen hätte ich mir nicht vorstellen können. Doch sie erfuhr ich beim Lesen der Soldatenprotokolle. Ich las nicht nur, ich hörte: Ich hörte die Männer vom Krieg reden, so wie ich es aus meiner Kindheit und Jugend kannte – ohne jedes Gefühl für sich selbst und die Opfer.
Da hatte ich wieder den angeberischen Tonfall im Ohr, wenn von Russland die Rede war. Die Andeutungen in ihren Geschichten verstand ich damals nicht, folglich auch nicht die Pointe, aber das grobe, schadenfrohe Gelächter machte mir Angst.
Diese Angst kam
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