Nachkriegskinder
ihn sehr hart angegriffen. Daraufhin schrieb er mir einen Brief – und da hat es bei mir geklingelt! Er schrieb, |213| ich sei ja wohl bei meinen theologischen Studien bislang nicht weiter gekommen als bis zum »jüdischen Rachegott«. Ich hatte inzwischen gelernt: »Jüdischer Rachegott« war ein Begriff, den die Nazi-Theologie benutzte, um das Judentum verächtlich zu machen. Erst danach ging es in unseren Konflikten auch um seine NS-Vergangenheit. Einmal schrieb er mir, ich würde jetzt »aus der Sippe ausgeschlossen werden«. Tatsächlich kam es irgendwann zum Bruch, der über Jahre anhielt, oder wir praktizierten einen distanzierten, konventionellen Kontakt.
Hat Ihr Vater unter dem schlechten Verhältnis zu Ihnen gelitten?
Das glaube ich schon deshalb, weil die Leute im Ort mitbekamen, dass die Kinder ihn nicht mehr besuchten. Am Ende seines Lebens sind wir beide uns wieder näher gekommen. Auf seinem Sterbebett hat zu mir gesagt: »Ich wollte alles ganz anders machen«. Ich habe keinen Zorn mehr auf meinen Vater. Ich träume heute anders von ihm – erwachsener als noch vor Jahren. Und schließlich hat er mich an diese großen Themen geführt. Aber er bleibt ein Rätsel für mich, an dem ich bis heute buchstabiere. Warum konnte er seine Gaben nicht besser nutzen? Wieso konnte er häufig Menschen außerhalb seiner Familie Orientierung und Halt geben? – Ich habe immer gesagt: Es geht mir nicht um Schuldzuweisungen. Was weiß ich, wie ich mich in dieser Zeit verhalten hätte … Ich sitze nicht auf dem hohen Ross, ich wollte schließlich nur besser verstehen.
Mich würde interessieren, welche Fragen Sie ihm zu seiner Vergangenheit gestellt haben.
Nicht viele. Ich habe ihn gefragt: Warum hast du uns nie von dem erzählt, was vor der DDR in Deutschland geschehen ist. Seine Antwort: Ich hatte damit zu tun, euch satt zu kriegen. Später erfuhr ich: Er war ganz früh, schon vor 1933, in seiner Heimatstadt und wenig später als Student in Jena – damals die braunste theologische Fakultät – bei den Naziaufmärschen dabei. Er ist als Soldat |214| in Saloniki gewesen, dem griechischen Umschlaghafen für die deportierten Balkanjuden. Was hast du davon mitgekriegt, habe ich gefragt.
Was hat er geantwortet?
Nichts!
Und Sie haben ihm geglaubt?
Nein. Aber ich habe nicht gefragt: Warum lügst du mich an? Wissen Sie, bei solch abweisenden Antworten wird man einfach müde und sagt sich: Es hat keinen Sinn. Ich erfahre ja doch nichts. Auf der anderen Seite muss es für ihn eine Provokation gewesen sein, als ich 1978 ein Gedenken des Judenpogroms von 1938 vorbereitete, für DDR-Verhältnisse sehr früh, obwohl für uns tatsächlich ja beschämend spät. Es gab einige Aufregung, denn staatlicherseits wurde nirgendwo an die zerstörten Synagogen erinnert. Das änderte sich erst mit Honeckers Wunsch, nach Amerika zu fahren! Vorher war es so: Wenn die Kirchen nichts machten, dann geschah überhaupt nichts, abgesehen von den staatlich angeordneten Ritualen. Es war also an der Zeit, der offiziellen Erinnerungskultur etwas entgegenzusetzen.
Warum war Ihnen gerade die Gedenkarbeit zum November 1938 wichtig?
Jedes Kind zu DDR-Zeiten konnte zwar nachts um 2 geweckt werden mit der Frage: Wie viele Juden sind umgebracht worden, jedes Kind konnte antworten: 6 Millionen. Aber hätte man gefragt: Wer waren eigentlich die Juden?, wäre als Antwort gekommen: Das weiß ich doch nicht. Also, ich kann das wirklich sagen, weil ich mich Zeit meines Berufslebens mit Kinder- und Jugendarbeit beschäftigt habe. Der Impuls des Pogromerinnerns kam dann wie von selbst. Ich erkundete die Kleinstadt, in der ich seit 1975 arbeitete. Und irgendwann erfuhr ich von einer Jüdengasse, die immer noch umbenannt war, von einer zerstörten Synagoge und |215| von Juden, die dort gelebt hatten. Alles andere hat sich dann daraus ergeben. Vor diesem geplanten Pogrom-Gedenken habe ich meinen Vater – da war ich schon Mitte 30 – gefragt, ob in unserem Heimatort eine Synagoge gestanden habe. Und ob er dort von Pogromen etwas mitbekommen habe. Antwort: Nein.
Und?
Eine Synagoge hat dort nicht gestanden. Aber es gab jüdische Familien und Geschäftsleute.
Und denen muss arg mitgespielt worden sein. Und mein Vater predigte 1938, nach glaubhaften Aussagen von Zeitzeugen, in SA-Uniform unterm Talar.
Wir haben jetzt über einen Teil Ihrer politischen Arbeit als Pfarrer gesprochen. Wie haben Sie damals Ihre Rolle gesehen?
Ich war
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