Nachkriegskinder
Gemeinwesen zu stärken. Und dazu gehört manchmal auch ein mutiges Erinnern an Unglück bringende Jahre in einem Dorf oder einer Kleinstadt.
Was lässt sich da tun? Also, es war eine gute, eine interessante Zeit. Ich kann sagen: Etwas Schöneres konnte mir als letzte große Aufgabe vor dem Ruhestand nicht passieren.
Wie Kinder »freudigen Gehorsam« entwickeln
In seinem Buch werden die Probleme, die mit Säuglingen auftauchen können, sachkundig beschrieben. Doch wie sie zu lösen seien, klingt aus heutiger Sicht oftmals brutal, und man fragt sich, ob ihm die »Menschenknospe« tatsächlich am Herzen lag. Zum Beispiel das Thema »Nahrungsverweigerung«. Da sehen seine Empfehlungen so aus: Man versucht es zunächst im Guten, doch wehrt sich der Säugling dann immer noch, »gießt man ihm den Mund voll und hält einige Male die Nase zu, so dass geschluckt werden muss.« 36
Kinder sollen vor allem »freudigen Gehorsam« entwickeln. Um das zu erreichen, gibt der Arzt den Eltern eine Fülle von Ratschlägen an die Hand. Seiner Ansicht nach müssen Strafen gut dosiert und mit kühlem Kopf verhängt werden. Bei Schlägen rät er zu Zurückhaltung. Prügelstrafe nur dann, wenn nichts anderes mehr greift. Degwitz vertritt die Überzeugung: Ist ein Kind schon zehn Jahre alt und seine Eltern glauben immer noch, auf den Stock nicht verzichten zu können, dann haben sie etwas falsch gemacht. Stattdessen verweist er auf eine andere Maßnahmen, die er für weit wirksamer hält. »Je nach Schwere des Vergehens kann ein Kind für Stunden, ja für Tage völlig übersehen und in |223| einen leeren Raum gestellt werden.« Die Strafen, sagt er an anderer Stelle, sollen keine Angst erwecken …
Sein geringes Einfühlungsvermögen in Kinder ist aus heutiger Sicht erschreckend, zu seiner Zeit war es normal, viele Generationen wurden so erzogen. Rudolf Degwitz hielt sich zweifellos für einen Humanisten. Auch er wollte Kinder stark machen. In seinem Ratgeber betont er mit guten Argumenten, wie wichtig es ist, dass Eltern ihnen Vertrauen schenken, er sagt viel Richtiges über die Basis stabiler Beziehungen. Aber er konnte nicht erkennen, dass eine frühe Kinderdressur tiefe, vertrauensvolle Beziehungen und damit ausreichend Vertrauen ins Leben gar nicht erst wachsen lassen. Würde er noch leben, er würde mir vehement widersprechen. Ich stelle mir vor: Er würde von gelungenen Familienfesten erzählen, und vor allem würde er darauf verweisen, dass aus allen seinen Kindern »etwas geworden ist.«
Was ist davon zu halten? Bei den meisten meiner Gesprächspartner ist das der Fall – trotz der Verunsicherungen und Ängste, deren Spuren sie noch heute in sich tragen und von denen sie freimütig und ohne Larmoyanz berichteten. Doch wie viel Anstrengung es ihnen abverlangte, um zu erreichen, was sie erreicht haben, wird in den drei folgenden Geschichten sichtbar.
Eine behütete, enge Welt
Fast alle meine Gesprächspartner habe ich zu Hause besucht. Doch Simon Carstens* meinte am Telefon, er habe demnächst in Köln zu tun, er könne gern zu mir kommen. Er bringt alte Fotoalben und ein Liederbuch mit. Sein Vater, ein Handwerker, Jahrgang 1921, spielte die Zither, ein altmodisches Instrument. Simon Carstens, 1954 geboren, wuchs in einer ländlichen Umgebung in der Nähe von Siegen auf. Heute lebt der Allgemeinmediziner in Schwaben, in der Nähe von Stuttgart, er ist verheiratet und hat drei Kinder. Als ich Monate später unser Gespräch verschriftete, |224| gefiel mir seine Art des Erzählens so gut, dass ich beschloss, sie in Ich-form zu erhalten.
✎ Meine frühen Erinnerungen an meinen Vater haben immer zu tun mit starken innigen Gefühlen. Der Vater beim Zitherspiel oder beim gemeinsamen Spaziergang am Sonntagmorgen, ich strecke die Hand nach oben – ich muss noch sehr klein gewesen sein – und er führt mich durch die Wiesen und zeigt mir Blumen, Tiere, Steine. Wir brachten jeden Sonntag nach dem Gottesdienst einen Blumenstrauß für die Mama mit. Meine Eltern gehörten zum engen Kreis der Pietisten, entschieden für Jesus, ihre Frömmigkeit war von der Mystik Tersteegens geprägt. Ich bin in einer sehr behüteten Welt aufgewachsen, die aber auch sehr eng war. Ein Satz hat sich mir eingeprägt: Es gibt unsere Sorte Menschen und die anderen. Gemeint waren die Gläubigen und die Ungläubigen. Diese Haltung hatte etwas Dünkelhaftes. Man war also etwas Besseres, man musste etwas Besseres sein. Aber als Kind empfand ich das so, als
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