Nachkriegskinder
Dreiergruppe in ihrem Erdloch überraschte. Helmut Rudow war schneller. Seine Tochter glaubt zu wissen: »Meinen Vater hat die |206| Erinnerung an die Schuld mehr belastet als die an sein eigenes Leid. Am Ende seines Lebens sah er den Soldaten, den er getötet hatte, vor sich.«
Seine Tochter war davon nicht überrascht. »Ich dachte schon lange: Das ist ja alles in seinem Körper drin. Irgendwann kommt es hoch.« Gelegentlich hatte sie ihren alternden Vater angeschaut und sich gefragt: Was passiert, wenn seine Kräfte nachlassen? Wie wird er sterben? Helmut Rudow starb nicht leicht. Offenbar konnte er erst gehen, als der seelische Konflikt sich aufgelöst hatte, als er empfand, dass Gott ihm vergeben hatte. Aber er war nicht allein während seines letzten Kampfes, sondern nah bei den Menschen, die ihm am meisten bedeuteten. – Wenn es drauf ankommt, rückt die Familie zusammen.
INTERVIEW
»Wer waren eigentlich die Juden?« – »Das weiß ich nicht«
Pfarrer Wolfram Hülsemann über seinen Kriegsvater und den Umgang der DDR mit der NS-Zeit
Weil er seine Aufgabe darin sah, aufbegehrende Jugendliche vor dem SED-Machtapparat zu unterstützen, manchmal auch zu schützen, gehörte Wolfram Hülsemann zu den bekannten Pfarrern in der DDR. Nach dem Mauerfall moderierte er den Berliner »Runden Tisch«. Doch im Unterschied zu seinen Kollegen Joachim Gauck oder Rainer Eppelmann, deren Namen in der gesamtdeutschen Öffentlichkeit auftauchten, weil sie in die große Politik gingen, blieb Hülsemann der protestantischen Kirche treu. 1998 bekam er allerdings von der brandenburgischen Landesregierung den Auftrag, ein Konzept gegen Rechtsextremismus und für ein tieferes Demokratieverständnis in der Bürgergesellschaft des Landes zu entwickeln. Viele Jahre leitete er ein Mobiles Beratungsteam, |207| das Kommunen zur Seite stand und vor Ort mit beachtlichen Erfolgen die Kräfte einer Zivilgesellschaft stärkte. Der Grund für seine Berufung war sein Engagement für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus schon zu DDR-Zeiten, das sich vom »staatlich verordneten Antifaschismus« unterschied. 1978 sorgte er zum Beispiel in einer Thüringer Kleinstadt mit einer Gedenkveranstaltung zu den Novemberpogromen für Unruhe, denn die zerstörten Synagogen stellten zu dieser Zeit ein gesellschaftliches Tabu dar. In einem Zeitungsartikel war ich auf Wolfram Hülsemann aufmerksam geworden, der mit dem Satz zitiert wurde: »Mein Vater war ein kleiner Nazi.« Er schien für mich der richtige Gesprächspartner zu sein, um die Hintergründe der Variante-Ost des Themas »Nachkriegskinder und ihre Soldatenväter« besser zu verstehen. Gleichzeitig erfuhr ich die traurige Wahrheit einer Sohn-Vater-Beziehung, in der keine gemeinsame Sprache und keine gemeinsame Tiefe gefunden wurden.
Sie sind 1943 geboren, also noch im Krieg. Wo kommen Sie her?
Ich bin in Thüringen aufgewachsen, ein Landkind. An den Krieg habe ich so gut wie keine Erinnerungen. Die Umgebung meiner frühen Kindheit muss man sich wie ein kleines Paradies vorstellen. Eine Villa am Rand einer Kleinstadt, ein Garten mit Blumen und Gemüse, ein großer Birnbaum und ringsum nur freundliche Menschen. Als die Pionierorganisation gegründet war, kam der Lehrer mit einem großen Kartoffelsack in die Klasse. Darin befanden sich die blauen Halstücher der Pioniere. Der Lehrer fragte: »Wer will dazu gehören?« Natürlich wollten das alle, ich auch. Da guckt er mich an und sagt: »Also du fragst erst mal deinen Vater.« – Mein Vater war dagegen. Er war Pfarrer und lehnte das DDR-Regime ab. Seine ganze Berufsgruppe galt als politisch unzuverlässig und wurde bei der Vergabe von Lebensmittelkarten mit der niedrigsten Einstufung abgestraft.
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Hieß das, die ganze Familie wurde unter Druck gesetzt?
In den frühen Kindertagen habe ich diesen Druck nicht so gespürt. Später in der Schule dafür ganz besonders. Sonntags war die Kirche immer voll. Beim Kindergottesdienst sangen wir aus vollem Hals: »Solls uns hart ergehen, lass uns feste stehen. Noch in den schwersten Tagen niemals über Lasten klagen«. Ich selbst fand es nicht so hart. Manchmal war man ein bisschen hungrig. In der Kleinstadt gab es ein paar Ruinen durch Bombenangriffe. Krieg war Thema. Viele Kinder hatten keine Väter mehr. Mein Vater wurde von diesen Kindern angehimmelt, weil sie in ihm einen Vaterersatz sahen.
Also sind Sie im Grunde ausreichend mit Essen versorgt worden?
Ganz so war es nicht, sonst
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