Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachkriegskinder

Nachkriegskinder

Titel: Nachkriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
Vom Netzwerk:
passiert.
     
    Aber Ihr Vater hat sich doch später mit den Verbrechen des Nationalsozialismus befasst …
    Er hat »Anne Frank« in einer Jugendgruppe mit uns gelesen, jede Woche jeweils ein paar Tagebucheintragungen. Dafür bin ich ihm heute noch dankbar, weil es zu meiner eigenen Sensibilisierung wesentlich beigetragen hat. Die erste Auflage von Eugen Kogons SS-Staat fand ich in seinem Bücherregal, als Kind habe ich das Buch heimlich gelesen. Aber ansonsten wurde in meinem Elternhaus von den Schrecken des Krieges, die Deutschland den Nachbarländern zugefügt hatte, nicht geredet. Die Barbarei ist nicht thematisiert worden, nicht der sogenannte Zusammenbruch, |211| der »Befreiung« nicht genannt werden durfte. Es war ja nicht nur der Krieg, der verloren ging, es zerbrach ein ideologisches System, dem mein Vater sich von früher Jugend an verpflichtet sah. Dann der Neubeginn in der SBZ/DDR: Das vertraute NS- Wertegerüst war abgewrackt. In der Öffentlichkeit agierten jetzt Kommunisten mit ihrem Wertesystem, das sich von dem alten Wertesystem nicht restlos unterschied. Zum Beispiel die sogenannten Neulehrerinnen und Neulehrer – meist in der Hitler-Jugend sozialisiert. Viele haben ihre erworbenen Muster mitgebracht. Die äußeren Zeichen waren der vorherrschende Kommandoton oder das Strammstehen beim Fahnenappell in den Schulen.
     
    Demnach hat sich das alte System teilweise in der kollektiven Erziehung erhalten. Sehen Sie auch bei Ihrem Vater Analogien?
    Als System sicher nicht. Meine Theorie ist: Sein ganzer Wertehaushalt zerbrach, blieb aber als Torso in manchen Einstellungen und Verhaltensweisen weiter lebendig und wirksam. Ich möchte das am Beispiel seines Erziehungsstils erläutern. Er konnte brutal zuschlagen. Heute würde das strafbar sein. Mal war er ein depressives, in sich zurückgezogenes Familienmitglied, dann wieder ein gewalttätiger Patriarch. Er sagte: »Ich erziehe meine Jungs unter dem Kreuz«, und erst später vermutete ich: Er meinte nicht das christliche Kreuz, denn er hatte ja gelernt, dass man in der Kreuzestheologie kein Leiden schafft, sondern da wird Leid solidarisch getragen, da wird getröstet. Nein, er meinte »unter dem Hakenkreuz«. Hart wie Kruppstahl, schnell wie die Windhunde sollten wir werden. Ich war ein langsames Kind.
     
    Wie, glauben Sie, stand Ihr Vater zu seiner Wehrmachtzeit?
    Dazu muss ich Ihnen etwas erzählen: In dem Raum, wo ich meine Schularbeiten machte, hing an der gegenüberliegenden Wand eine große Bleistiftzeichnung, das Porträt meines Vaters in Uniform. Für mich ist das Bild bedeutsam. Wer würde sich täglich als |212| Wehrmachtsoldat sehen wollen, wenn diese Zeit für ihn eine schreckliche war? Ich gehe davon aus, er hat sie nicht als Dilemma erlebt, eher wie dieser Krieg ausgegangen ist. Natürlich war er zu klug oder zu ängstlich, sich offen zu dem Positiven zu bekennen. Die Wehrmachtzeit war für ihn, wie für viele Männer, irgendwo auch eine große Zeit. In meinem Elternhaus stand eine graugrün gestrichene Soldatenkiste, darauf der Name »Leutnant Heinz Hülsemann«, aber es wurde immer wieder betont, es hätte eigentlich »Oberleutnant« heißen müssen. Mein Vater tat im Krieg, was allen Männern Freude macht, er hat alle Autos gefahren, auch Motorräder, er ist geritten – womöglich schien es ihm die beste Zeit seines Lebens.
     
    Glauben Sie, dass dies später für die Familie Folgen hatte?
    Hier sehe ich auch einen Zusammenhang zu seiner Gewalttätigkeit als Vater. Im Grunde genommen hat er sich gerettet in ein hierarchisches Familienverständnis, er tat immer noch so, als ob er der Oberleutnant sei. Vermutlich kompensierte er mit dieser Familienrolle sonstige Abwertungserfahrungen. Er war als Loser aus Nazizeit und Krieg hervorgegangen und erfuhr in seiner Heimat keine offizielle Anerkennung und Wertschätzung mehr. Einem protestantischen Pfarrer im Osten fehlte zunehmend die früher seiner tradierten Rolle entsprechende gesellschaftliche bzw. soziale Anerkennung. Und natürlich hat solch eine Haltung auch immer etwas zu tun mit eigenen, belastenden Kindheitserfahrungen. Das gilt auch für meinen Vater.
     
    Am Anfang waren Sie ja sicher politisch einer Meinung …
    Stimmt. Unsere Vater-Sohn-Konflikte hatten zunächst keine politischen Inhalte, sondern solche, die sein Verhalten in der Familie betrafen. Zu den heftigsten Auseinandersetzungen kam es, nachdem sich meine Mutter das Leben genommen hatte. Da war ich 19 Jahre alt. Ich habe

Weitere Kostenlose Bücher