Nachkriegskinder
hätte ich die Schulspeise nicht in so guter Erinnerung. Man hatte Stahlhelme in Metalltöpfe umgeformt. Da kam die Suppe rein. Und das Höchste war: Man konnte Nachschlag bekommen! Da hat man mehr gegessen, als man eigentlich brauchte, das wollte man ausnutzen. Und was auch in diese Zeit gehört: Irgendwie blieb es ein Rätsel, warum die von den Eltern relativ verächtlich beschriebenen Russen, die ja die Amerikaner in Thüringen ablösten, wie also diese Russen mit ihren Panjewagen, gezogen von zotteligen Pferden, die deutsche Armee hatten besiegen können. Dafür gab es als Erklärung nur diesen Halbsatz, »Wenn da nicht der strenge Winter gewesen wäre …« Was war davon zu halten? Ich habe also mehr von den Deutungen des Krieges gehört als von den Schrecken selbst.
Kommen auch Sie aus einer Familie, in der geschwiegen wurde?
Ja, mit Ausnahme der Situation, als mein Vater erzählte, er sei beinahe von einer Granate zerfetzt worden, die seinen Hauptmann getroffen habe. Ich wusste also: Vater ist in großer Gefahr gewesen. Es ist etwas Besonderes, dass du einen Vater hast. Die meisten meines Alters hatten keinen. Der Krieg hatte ihn über den ganzen Balkan nach Griechenland, Kreta und Italien geführt. Er war immer |209| dankbar, weil ihm Russland erspart geblieben war. Auch ist er ohne körperliche Verletzungen durchgekommen. Später hat mich interessiert, wieso er nicht in amerikanische Gefangenschaft geriet. Meine Recherchen ergaben: Anfang 1945 hatte er einen Nervenzusammenbruch, sehr wahrscheinlich irgendwie inszeniert. Das deutete er später einmal an. Jedenfalls ist er in Meran in ein Sanatorium gekommen, wo eine endogene Schizophrenie diagnostiziert wurde. So stand es in den Unterlagen, die mein Vater mir hinterließ. Dann kamen die Amerikaner ins Sanatorium und haben ihn auf Grund dieser Diagnose sofort nach Hause entlassen. Ich selbst habe davon bei ihm nie etwas bemerkt. Er muss ein guter Darsteller gewesen sein. Nach seiner Entlassung hat er sofort wieder als Pfarrer gearbeitet.
Und das Entnazifizierungsverfahren?
Das verlief für ihn günstig, weil nicht nur die Westalliierten sondern auch die Russen bei den Kirchenleuten eine gewisse Distanz zum NS-Regime vermuteten und die Entnazifizierung durchweg den Kirchen selbst überließen. Mein Vater hatte vor 1939 in SA-Stiefeln gepredigt, und nach 1945 predigte er in seiner Kirche weiter, als sei nichts geschehen. 1942 hatte er seinen Konfirmanden aus dem Krieg einen Brief geschickt, in dem er die Hitlerzeit als ein Gottesgeschenk beschrieb, ein Gruß aus dem Felde, weil er nicht bei ihrer Konfirmation dabei sein konnte. Er hat ihnen in wohlgeformten Sätzen klargemacht, Hitler sei eine Art Messias, und er hat hinzugefügt, auch wenn sie jetzt noch nicht alles verstünden, so sei klar, dass auch sie eines Tages in diesem Kampf bestehen müssten. Aus Unterlagen konnte ich erkennen, dass er schon 1936 zu den sogenannten »alten Kämpfern« gezählt wurde, weil er vor 1933 der NSDAP und der SA beigetreten war und sich früh aktiv am Kampf des »Führers« beteiligte. Er war dann auch Mitglied bei den »Deutschen Christen«; er hat seinen Teil zur Verquickung von Nationalsozialismus und Kirche beigetragen.
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Sie haben einmal in einer Zeitung die Vergangenheit Ihres Vaters angesprochen. Welche Reaktionen bekamen Sie?
Es meldeten sich zwei Menschen, die ihn persönlich gekannt hatten, und teilten mir mit, wie wichtig mein Vater für sie in der Zeit nach 1945 gewesen sei, und es sei ungerecht von mir, ihn öffentlich einen »kleinen Nazi« zu nennen. Dazu sage ich: Natürlich hat er gelernt. Ich habe nie gehört, dass er die Nazizeit verherrlicht hätte. Antisemitische Einstellungen hat er wohl nie verloren. Dafür gab es deutliche Anzeichen. Ich könnte nicht sagen, dass er wirklich verstanden hat: Wir sind einer Ideologie aufgesessen, die vom Ansatz her menschenverachtend und verbrecherisch ist. Diese Tiefe hat er wohl nicht erreicht. Denn er tat sich schwer, demokratische Wertvorstellungen für sich gelten zu lassen. Die Konsequenzen, die er aus seinen Erfahrungen und Niederlagen zog, hat er mir in Merksätzen mit auf den Weg gegeben – »Zeige nie deinen Kopf«, und »Geh nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst«.
Bereute er, sich selbst nicht daran gehalten zu haben?
Offenbar. Er hat also nicht die politischen Werte diskutiert, sondern glaubte, wäre er unauffällig geblieben, wäre ihm das alles nicht
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