Nachricht von dir
rief:
»Schau auf die Straße, Papa!«
Er gab ihm recht.
»Okay, kleiner Mann, du kannst mir mal helfen.«
Charly, der sich freute, eine Aufgabe zu bekommen, gab über das Display die Daten in das Online-Formular ein. Nach Anweisung seines Vaters tippte er DOCTEUR ESTEBAN und PARIS ein und startete die Suche. Innerhalb weniger Sekunden tauchte das Suchergebnis auf:
Laurence Esteban
Psychiater
66 bis, rue Las Cases 75007 Paris
Jonathan war mit der vermeintlichen Untreue von Madeline also auf einer falschen Spur gewesen, hatte jedoch erraten, dass es ihr schlecht ging. Zwar gab sich die junge Frau auf den Fotos den Anschein, glücklich zu sein, aber jemand, der zweimal pro Woche einen Psychiater aufsuchte, konnte kaum ungewöhnlich heiter sein …
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Kapitel 7
Lempereur, der entthronte Imperator
Wir beide brauchten etwas Vergessen, eine kurze Zwischenrast, bevor wir uns mit unserem Gepäck voller Nichts weiterschleppten. […] Zwei gebrochene Wesen, die sich in ihrer Einsamkeit beistehen.
Romain Gary,
Die Liebe einer Frau
Paris, 8. Arrondissement
1 Uhr nachts
Eine Wohnung in einem kleinen Haus des Faubourg-du-Roule
Schneeregen fiel auf die Dächer der Hauptstadt.
Kuschelig warm unter ihrer Bettdecke las Madeline im Schein der Nachttischlampe die letzten Seiten von Jonathan Lempereurs Buch Bekenntnisse eines leidenschaftlichen Kochs , das Takumi am Vormittag für sie gekauft hatte.
Neben ihr schlief Raphael schon seit zwei Stunden. Als er zu ihr ins Bett gekrochen war, hatte er gehofft, seine Zukünftige würde zugunsten einiger »Zärtlichkeiten« ihre Lektüre abbrechen. Madeline aber klebte förmlich an dem Buch, und, des Wartens überdrüssig, war Raphael schließlich eingeschlafen.
Madeline liebte es, in der nächtlichen Stille zu lesen. Obwohl Raphaels Wohnung in der Nähe der Champs-Élysées lag, war sie gleichsam ein Hafen der Ruhe, unbehelligt von den Polizeisirenen und dem Lärm der Nachtschwärmer. Mit einer Mischung aus Faszination und Abneigung hatte sie Jonathans Werk verschlungen. Es stammte aus dem Jahr 2005. Damals erlebte Lempereur seine erfolgreichste Zeit, wie die einstimmig enthusiastischen Kritiken auf dem Buchdeckel bezeugten: » Zauberer des Geschmacks « , » Mozart der Gastronomie « , » kreativster Sternekoch seiner Generation « .
In den diversen Interviews erläuterte Lempereur sein Credo: Für ihn war die kulinarische Kreation eine eigenständige künstlerische Dimension – vergleichbar mit Malerei und Literatur –, die sich nicht auf eine schlichte Befriedigung der Geschmackspapillen beschränkte. Er definierte sich weniger als Koch denn als »Schöpfer« und verglich seine Arbeit mit der eines Schriftstellers vor einem leeren Blatt Papier. Deshalb nahm er für seine Tätigkeit den Titel »Autorenküche« in Anspruch.
»Über die einfache handwerkliche Aktivität hinaus möchte ich, dass meine Gerichte Geschichten erzählen und Emotionen wecken«, verkündete er.
Unter diesem Gesichtspunkt ging er zurück zu den Quellen seines kreativen Schaffens, um die Wurzeln seiner Kunst aufzudecken. Wie entstanden seine Intuitionen? Anhand welcher Prozesse kombinierte er bestimmte Geschmacksrichtungen miteinander, um bisher unbekannte Ergebnisse zu erzielen? Welche Rolle spielten die Konsistenz und die Ästhetik eines Gerichts?
»Ich bin auf alles neugierig«, gestand er. »Ich nähre meine Kreativität durch den Besuch von Museen, Gemäldeausstellungen, indem ich Musik höre, Filme anschaue oder Landschaften betrachte. Meine wichtigste Inspirationsquelle jedoch ist meine Frau Francesca. Ich schließe mein Restaurant drei Monate lang, um mich in mein Atelier in Kalifornien zurückzuziehen. Ich brauche diese Zeit, um mich zu regenerieren und neue Rezepte zu entwickeln, die ich im folgenden Jahr im Imperator anbiete.«
Mit Verwunderung hatte Madeline festgestellt, wie viele Kapitel er den Blumen widmete. Jonathan machte in seiner Küche reichlich von ihnen Gebrauch und komponierte einen Teil seiner Rezepte auf ihre Geschmacksrichtungen und Düfte bezogen: kandierte Knospen der Kapuzinerkresse, knusprige Foie-gras-Stückchen an Rosenkonfitüre, mit Veilchen karamellisierte Froschschenkel, Mimosensorbet und Fliederbaiser, Eispralinés mit Nemours-Mohn …
Madelines Magen begann zu knurren. Die Lektüre hatte sie hungrig gemacht! Leise schlüpfte sie aus dem Bett und wickelte sich in eine Decke, bevor sie sich in die amerikanische Küche mit Blick
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