Nachrichten aus einem unbekannten Universum
abschalten zu können, bevor der Wellenberg auftrifft. Rosenthals Messgeräte sind jetzt schon in der Lage, die Betreiber der Plattformen im Fünfminutentakt mit Wellenhöhendaten zu versorgen. So lassen sich wenigstens Entwicklungen abschätzen. Auch die zeitgerechte Entwarnung ist für die Offshore-Industrie von Bedeutung. Je schneller sie die Plattform wieder ans Laufen bringen, desto geringer ist der finanzielle Ausfall.
Damit einhergehend empfiehlt Rosenthal, die Bauweise von Schiffen zu optimieren. Glasbruch ist Vertragsbestandteil jeder zweiten Versicherung und nichts Besonderes, wenn Fußball spielende Kinder in der Nachbarschaft wohnen. Wohnzimmerscheiben lassen sich ersetzen. Der Verlust eines Brückenfensters hingegen kann das ganze Schiff in den Abgrund reißen, denn Kommandozentralen unserer Zeit sind voll gestopft mit Elektronik. Und Computer reagieren zickig auf Wassereinbrüche. Mit ein Grund, warum jedes Jahr ein knappes Dutzend Schiffe durch Seeschlag kentert, darunter Frachter von über 200 Metern Länge. Nicht jedes Unglück kann man automatisch Monsterwellen zuschreiben, doch ihr Anteil dürfte beträchtlich sein.
Nun, wenigstens bleiben Riesenwellen hübsch auf dem Meer. Glücklich also, wer im Sturm nicht rausmuss, sondern vom gemütlichen Zuhause aus aufs Meer blickt, heißen Tee schlürft und den armen Seeleuten seine innigsten Gedanken widmet.
Doch manchmal kommt das Meer an Land.
Betrachtungen über ein Desaster
Als ich 2002 begann, den Schwarm zu schreiben, sah ich mich vor etliche Fragen gestellt: Wie könnte sich eine parallele Intelligenz in der Tiefsee unter darwinistischen Gesichtspunkten entwickelt haben? Wie wäre ihre Biochemie beschaffen, wie würde sie kommunizieren? Wie müsste man sich das Gefühlsleben eines Schwarms hochintelligenter Einzeller namens Yrr vorstellen, ihre Logik, ihre Werte? Vor allem aber: Welche Kräfte könnten die Yrr entfesseln, um uns Menschen Meer und Küste gründlich zu verleiden? Über Tsunamis wusste ich zu diesem Zeitpunkt nur, dass sie aus dem Nichts entstehen, je nach Höhe weit ins Landesinnere vorstoßen und ganze Siedlungen vom Erdboden fegen. Definitiv sind sie geeignet, Angst und Schrecken zu verbreiten, also nahm ich sie ins Waffenarsenal der Yrr auf und begann mich für ihre Entstehung zu interessieren.
Nur ein Dreivierteljahr nach Erscheinen des Buches rollte ein echter Tsunami durch Südostasien. Die Welt war schockiert und überfordert. Es stellte sich heraus, dass allein der Begriff Tsunami den meisten Menschen unbekannt war, in den betroffenen Gebieten ebenso wie in Mitteleuropa und Nordamerika. Nur die Anrainer des Pazifiks schüttelten die Köpfe über so viel Unkenntnis und merkten vorsichtig an, möglicherweise habe man es hier mit einem Mangel an Allgemeinbildung zu tun.
Auf Schriftsteller, die viel recherchieren, lauert eine böse Falle. Plötzlich glaubt man, jedermann müsse ebenso gut über den Gegenstand der Recherche Bescheid wissen wie man selbst. Das ist keineswegs der Fall. Was hatte ich denn über Tsunamis gewusst, bevor ich daranging, mich mit ihnen zu beschäftigen? Was wüsste ich heute, hätte ich den Schwarm niemals geschrieben? Äußerst wenig! Und woher auch? Seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, hat es im atlantischen Raum, im Indischen Ozean und im Mittelmeer keinen Mega-Tsunami mehr gegeben. Im Pazifik sah die Sache anders aus, aber von den dortigen Tragödien blieb im entfernten Europa nichts im Gedächtnis.
Tatsächlich wissen wir viel, nur nicht unbedingt das Richtige. Eigentlich wissen wir viel zu viel, werden mit Information bestrahlt bis an die Grenze der Überforderung. Was sich auf fatale Weise rächt: Je mehr wir erfahren, desto weniger verstehen wir. Der mediale Ausschnittdienst, Nachrichten genannt, hilft uns auch nicht wirklich weiter. Wie betäubt konsumieren wir eine gebührenpflichtige Peepshow namens Tagesschau, die Fensterchen öffnet und schließt, bevor wir begreifen, was wir da gesehen haben. Was empfinden wir angesichts der täglichen Autobombe im Irak, angesichts der Cloning-Debatte, des Hurrikans Wilma, des iranischen Atomprogramms, der Unruhen in Frankreich, der Welt der Chinesen, Senegalesen, Franzosen, Amerikaner, Ossis und Wessis, und so weiter? Wir können Nachrichten mit Lichtgeschwindigkeit austauschen. Aber können wir ihnen gedanklich mit Lichtgeschwindigkeit folgen? Nein. Und es werden immer mehr Nachrichten, immer mehr und mehr, der Schädel dröhnt uns, also
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