Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Mitten im Ozean rollt eine 30 Meter hohe Wand aus Wasser auf Sie zu, und Sie fragen sich, wo die so plötzlich hergekommen ist.
Gratulation! Sie haben das seltene Glück, einer Freak Wave ins nasse Antlitz zu blicken.
1933 traf eine solche Welle, 34 Meter hoch, den amerikanischen Kreuzer Ramapo und brachte ihn beinahe zum Kentern. Schon vorher waren Berichte über Monsterwellen laut geworden, doch galten sie als Seemannsgarn. Erst in jüngster Zeit, nachdem das 111 Meter lange Kreuzfahrtschiff Bremen nur um Haaresbreite einem 35- Meter-Brecher entronnen war, der es beinahe in den Abgrund gerissen hätte, begann man sich ernsthaft mit den legendären Wasserwänden auseinander zu setzen. Über eine halbe Stunde war die Bremen vor Südafrika getrieben, ohne Antrieb und mit 40 Grad Schlagseite. Das Phänomen ließ sich nicht länger verharmlosen. 2005 folgten gleich mehrere Zwischenfälle. Am 14. Februar zerschmetterte eine Riesenwelle die Brücke des Kreuzfahrtschiffs Voyager westlich von Sardinien. Wenige Wochen später krachte eine Freak Wave vor Florida in die Norwegian Dawn, setzte 62 Kabinen unter Wasser und beschädigte das 292 Meter lange Schiff so stark, dass es außerplanmäßig zur Reparatur nach Charleston musste. Sebastian Junger hat in seinem Roman Der Sturm ein solches Ungeheuer beschrieben, das in der gleichnamigen Verfilmung zum Leidwesen von Millionen Seemannsbräuten George Clooney frisst. In der Tat ist das Risiko, die Begegnung mit dem Leben zu bezahlen, verdammt hoch. Freak Waves kündigen sich nicht an, sondern wachsen binnen Sekunden aus dem Nichts. Nennenswerte Wellenlängen scheinen sie nicht zu besitzen. Damit werden sie für Schiffe zur tödlichen Gefahr. Eigentlich ist es nämlich schnuppe, wie hoch ein konventioneller Wellenberg ist, wenn man ihn nur gemütlich erklimmen kann. Um Steilwände zu bezwingen, ist hingegen kein Schiff gebaut, und Freak Waves türmen sich annähernd senkrecht auf.
Ein deutscher Wellenforscher hat die Monsterwellen einmal mit den Bremer Stadtmusikanten verglichen und damit verdeutlicht, dass es oft mehrere Wellen sind, die sich — hopp, hopp! — zu einer einzigen aufschichten. So etwas kann geschehen, wenn hohe, schnelle Sturmwellen plötzlich auf eine starke Gegenströmung treffen. Ihr Lauf stockt, die Wellenlänge nimmt rapide ab, nachfolgende Wellen schichten sich blitzschnell übereinander. Vor der Südostküste Afrikas etwa, rund ums Kap der Guten Hoffnung, schlagen Sturmwellen immer wieder frontal in die von Osten kommende warme Agulhas-Strömung, und auch Kap Hoorn am äußersten Zipfel Südamerikas gilt als gefährliches Staugebiet.
Distanzen bis zu zehn Kilometer legen Freak Waves (auch Rouge Waves oder Sneak Waves genannt) auf hoher See zurück, 35 bis 40 Stundenkilometer schnell. Einige der Giganten sollen aber schon über Hunderte von Kilometern gereist sein! Grundsätzlich neigen sie jedoch zur Instabilität. Die meisten führen ein eher kurzes Dasein, mitunter nur wenige Sekunden lang. Hat man das Pech, in unmittelbarer Nähe zu sein, nützt einem das wenig, zumal den Wasserwänden ein Abgrund vorangeht, von Seeleuten »Loch im Ozean« genannt. Um sich aufzubauen, zieht die Freak Wave gewaltige Mengen Wasser zu sich heran und erzeugt so einen Trog, in den Schiffe regelrecht hineinfallen, um von der nachfolgenden Welle überrollt zu werden. Haben sie mit knapper Not wieder herausgefunden, folgt die böse Überraschung: Eine besonders tückische Variante der Monsterwellen ist unter der gesellig klingenden Bezeichnung »Drei Schwestern« bekannt geworden. Schon das erste Schwesterchen ist eine ausgewachsene Freak Wave, die zweite Schwester folgt wegen der kurzen Wellenlänge dicht auf. Mit sehr viel Glück trotzt man auch diesem Aufprall, nur um sich Schwester Nummer drei gegenüber zu sehen, die kurzen Prozess macht. Unweigerlich fühlt man sich an Urd, Verdandi und Skuld erinnert, jene drei germanischen Göttinnen, die im Schatten der Weltesche den Schicksalsfaden spinnen. Ewig könnte man leben — würde Skuld den Faden nicht abzwicken, das üble Weib.
Nicht allein die Wellenkämme sind also ein Problem, sondern auch die kurzen, tiefen Täler dazwischen, in denen ein mittelgroßes Containerschiff bisweilen so arg durchgebogen wird, dass es auseinander bricht. Die Wellentäler sind die eigentlichen Fallen. Wenn wir von Wellenhöhe sprechen, müssen wir sie mit einrechnen. So liegen zwei Drittel einer Welle über dem Meeresspiegel, ein weiteres
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