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Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Nachrichten aus einem unbekannten Universum

Titel: Nachrichten aus einem unbekannten Universum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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von der ganzen Sache nicht viel mit.
    Es ist vergleichsweise einfach, sich eine Monsterwelle vorzustellen, weit schwerer ist es indes zu verstehen, wie ein Ereignis am Meeresgrund einen kompletten Ozean in Schwingung versetzen soll. Die Dimensionen übersteigen unser Vorstellungsvermögen. Um die Auswirkungen eines seismischen Schocks zu verstehen, können Sie jedoch ein simples Experiment durchführen. Sie brauchen dazu lediglich einen Eimer. Füllen Sie ihn voll Wasser und treten Sie von unten dagegen. Sogleich werden Sie sehen, wie sich an der Oberfläche konzentrische Wellen ausbreiten. Die Erschütterung überträgt sich auf das gesamte Wasservolumen, das heißt, die sich ausbreitende Welle hat zu allen Zeiten Bodenkontakt. Und sie ist schnell. Viel schneller, als wenn Sie in den Eimer pusten würden.
    Wie viel Wasser mag mit der ersten Welle, die Indonesien und die umliegenden Gebiete erreichte, an Land gelangt sein? Eine Million Tonnen dürften es gewesen sein. Stellen Sie sich diese Menge vor, 700 Stundenkilometer schnell. Und jetzt trifft sie auf den flacher werdenden Meeresboden in Küstennähe. Wohin mit dem ganzen dahinrasenden Wasser? Eben noch hatte die Welle einige Kilometer Raum in der Vertikalen zur Verfügung, nun verbleiben wenige hundert Meter, und es wird zusehends flacher.
    Nur ein Ausweg bleibt. Nach oben.
    Und so beginnt sich die Welle zu stauen, wird langsamer, weil der Boden sie an der Basis abbremst, türmt sich auf, höher und höher, ein Koloss, dessen Wellenlänge im Zuge der Verlangsamung rapide abnimmt. So wie ihm der Kamm schwillt, bildet er zugleich ein Tal aus, das Loch im Ozean, wie es auch Freak Waves vorangeht, nur dass wir es hier mit einem sehr weiten Tal zu tun haben. So erreicht als Erstes nicht die Welle selbst das Land, sondern der Trog, den sie vor sich herschiebt. Es kommt zum rapiden Abfall des Wasserspiegels, zur Blitzebbe. Das Erste, was die Menschen im asiatischen Tsunami-Gebiet sahen, war folgerichtig Meeresboden, den man sonst nie zu Gesicht bekommt. Nur die wenigsten konnten sich das Phänomen erklären. Die meisten gingen neugierig in die unerwartete Ebbe hinaus und bestaunten Fische, die japsend auf dem Trockenen lagen, ohne sich zu fragen, wann und auf welche Weise das Wasser zurückkehren würde.
    Aber es kam.
    Die Auswirkungen sind hinreichend bekannt, dennoch fragen sich die Menschen immer wieder, wie Flüssigkeit derartige Zerstörungen anrichten kann. Doch Flüssigkeit erweist sich nur dann als freundliches Medium, wenn man gemächlich darin eintaucht oder spitz hineinsticht, um die Aufprallfläche zu minimieren. Wasser muss die Gelegenheit erhalten, auszuweichen, wenn etwas anderes seinen Platz einnehmen will. Trifft es hingegen mit mehreren hundert Stundenkilometern Geschwindigkeit auf Land, nimmt es die Eigenschaften einer Cruise Missile an. Es ist wie Beton. Die transportierte Energie erzeugt einen derart ungeheuren Druck, dass die meisten Opfer nicht ertrinken, sondern erschlagen werden. Große Schiffe, ganze Gebäude werden von den Wassermassen ins Landesinnere getragen. Omnibusse anzuheben und in einigen Kilometern Entfernung wieder abzusetzen, ist noch das Geringste, was ein Tsunami zu vollbringen imstande ist.
    Fatalerweise hat man es mit mehreren Wellen zu tun. Im offenen Ozean kann deren Abstand einige hundert Kilometer betragen. Sobald die Energie an Land gestaut wird, verkürzen sich die Abstände, dennoch können Minuten, mitunter sogar eine Viertelstunde vergehen, bis der nächste Wasserberg heranrast. Allein in Unkenntnis dessen mussten in Südostasien etliche Menschen sterben, die nach der ersten Welle an den Strand zurückgekehrt waren, um nachzusehen, was von ihrer Behausung übrig war. Andere machten die Erfahrung, dass Tsunamis mindestens so viele Menschenleben fordern, wenn sie ins Meer zurückfließen. Gegen den Sog sind selbst ausgezeichnete Schwimmer machtlos. Wer den Aufprall überlebt, kann nur hoffen, irgendwo ein standhaftes Stück Mauerwerk oder einen unbeugsamen Baum zu erwischen, an dem er sich festhalten kann. Dann setzt der Kampf zwischen Sog und Muskelkraft ein — den man allzu oft verliert.
    Und noch mehr geschah als Folge des Bebens. Wissenschaftler der NASA registrierten eine geringfügige Beschleunigung der Erdumdrehung. Nach dem tektonischen Ruck verschob sich die Achse des Planeten um wenige Zentimeter mit dem Resultat, dass einem Erdentag seitdem drei Mikrosekunden fehlen. Was eher von akademischem Interesse ist.

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