Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Dass zu den lustig zappelnden Glühwürmchen ein zähnestarrendes Untier gehört, das reglos ihrer harrt, kommt ihnen nicht in den Sinn. Appetitlich sieht das Würmchen aus, also schwimmt man näher heran, versucht, danach zu schnappen, und wird selber verschlungen. Anglerpech.
Eigentlich ist die Angel ein verlängerter Rückenstachel, den Miss Evolution variantenreich gestaltet hat. Bei manchen Anglerfischen denkt man an zitternde Lanzettfischlein, andere tragen einen verzweigten Leuchtpuschel am Ende ihrer Angelrute oder locken mit wogenden Neonfäden. Dem so genannten Wunderfisch wächst der Köder direkt aus dem Gaumen. Dann gibt es welche, die mit fleischigen Barteln wedeln. Mal sitzt der Köder unmittelbar vor dem Rasiermessergebiss, mal ragt er weit hinaus. Ganz besonders helle ist Linophryne, nämlich mit zwei Angeln ausgestattet. Eine sitzt oben am Kopf, eine weitere am Kinn. Den Titel »Bizarrster Fisch der Tiefsee« verdient aber ohne jeden Zweifel der Hairy Angler, ein kreuzhässlicher Flossensack, von dessen Kopf und Körper Dutzende langer Stacheln und Fäden abstehen. Im hungrigen Zustand ähnelt er einer zerbeulten Handtasche. Voll gefressen schwillt er zu praller Größe an. Seine Beute ist oft größer als er selber.
Die gläsern schimmernden Gebisse der Angler verlieren ihren Schrecken, wenn man sie aus dem Wasser an die Oberfläche holt. Sonderlich groß ist keiner von ihnen. Manche messen nur wenige Zentimeter, andere bis zu einem Meter. Schlaff fühlen sie sich an und schlabberig, und tatsächlich ist ihre Muskulatur unterentwickelt. Im Dunkeln ergeben ausgedehnte Verfolgungsjagden wenig Sinn, man muss kein guter Schwimmer sein, sondern eher ein guter Täuscher. Tiefseeangler bewegen sich mit kurzen, ruckartigen Schwanzschlägen mehr schlecht als recht durchs Leben und sind vom Windkanal weiter entfernt als eine Postkutsche von einem Düsenjet. Ihr Leben besteht aus Abwarten und Energie sparen. Große Augen brauchen sie bei dieser Lebensweise nicht, zumal viele von ihnen auf Druckveränderungen reagieren. Es ist beinahe unmöglich, sich an ihnen vorbeizuschleichen. Mit der Präzision eines Industrieroboters lassen sie ihre Kiefer genau dort zusammenschlagen, wo man gerade auf leisen Flossen entlangzuhuschen sucht. Die mit Sensoren bestückte seitliche Körperlinie des Räubers, das Lateralorgan, arbeitet wie ein Radioempfänger, registriert und koordiniert kleinste Wellenbewegungen. So üppig, wie der Hairy Angler damit ausgestattet ist, müsste er sich im Grunde gar nicht bewegen. Allerdings fehlt Anglern die Schwimmblase. Also paddeln sie wenigstens ein bisschen, um nicht abzusacken.
Andere Extremisten der Tiefe wie der Fangzahn tragen solch imposante Hauer im Maul, dass sie ihre Kiefer nicht mehr schließen können und ihre Beute schlicht einsaugen. Drachenfische wiederum sind weniger klobig als Angler, sondern lang gestreckt. Beim Anblick ihres Kopfes fühlt man sich wahrhaftig an alte Darstellungen von Drachen erinnert. Man findet sie vornehmlich dort, wo Restlicht- und Dunkelzone aneinander grenzen. Die meisten finden in einer Handfläche Platz, allerdings tragen sie am Kinn einen Köder, der mehrere Meter lang werden kann. Diese Bartel, oft mit mehreren Leuchtorganen versehen, lockt die Beute von unten an, sodass der Drachenfisch herabstößt, sobald etwas an ihm knabbert. Allerdings können manche Vertreter der Drachenfische noch ein bisschen mehr. Ihnen verdankt es sich nämlich, dass auch die Tiefsee über ein Rotlichtviertel verfügt.
Schwimmen die kleinen Räuber etwa mit erigierter Bartel zum Stelldichein?
Nicht ganz. Vielmehr verfügen Drachenfische wie Melanstomias über zwei zusätzliche Leuchtorgane gleich hinter den Augen, regelrechte Scheinwerfer, die ausnahmsweise geeignet sind, die unmittelbare Umgebung zu erhellen — allerdings nur für den Drachenfisch selbst. Denn das ausgestrahlte Licht ist Infrarot, eine Frequenz, die nur er sehen kann. Grundsätzlich erscheint Rot in der Tiefsee schwarz. Melanstomias’ Superleuchten, mit denen er seine Beute bestrahlt, sind darum für diese unsichtbar. Er kann sie sehen, sie ihn nicht. So bemerkt sie sein Herannahen erst, wenn sich die Kiefer mit den Nadelzähnen um sie schließen. Wenige Spezies verfügen über ein so feines Überraschungsmoment. Zudem können Drachenfische mit anderen Drachenfischen heimliche Blinkzeichen austauschen, von denen sonst niemand was mitbekommt: Hey, pssst, heute Abend Garnelenessen bei Rudi? —
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