Nachrichten aus einem unbekannten Universum
einzigartigen Programms mit Sitz in Washington: des »Census of Marine Life«, kurz CoML. Sie träumen von einer Datenbank, in der nicht nur jede Seegurke mit Vor- und Spitznamen verzeichnet ist, sondern überhaupt jedes Lebewesen, das H 2 O sein Zuhause nennt.
Kurz zur Erinnerung: Über zwei Drittel der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt. Vier Fünftel davon sind Tiefsee, in Zahlen 318 Millionen Quadratkilometer — oder 62 Prozent der Erdoberfläche, wenn Ihnen das lieber ist. Sämtliche Kontinente zusammengenommen sind knapp halb so groß wie dieser dunkle, kalte, unendlich ferne Bereich. Zwar finden sich 95 Prozent der gesamten Biosphäre unseres Planeten in den Ozeanen und Meeren, aber weniger als 0,1 Prozent davon wurde jemals einer näheren Betrachtung unterzogen. Hinsichtlich der untersuchten Fläche Meeresboden fällt das Ergebnis noch ernüchternder aus. All die vielen Stückchen schlammigen Grundes, die Tauchroboter und Menschen vor Ort besichtigt haben, machen zusammen gerade mal fünf Quadratkilometer aus. Fünf Quadratkilometer! In Relation zum großen Ganzen sind das 0,0000016 Prozent.
Eine Volkszählung in einem Land, das keiner kennt?
Eben drum, sagen die CoML-Experten und lassen sich nicht beirren. Gegründet Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts auf Anregung der Alfred P. Sloane Foundation in den USA, verzeichnet das Projekt inzwischen 73 Mitgliederstaaten und erfreut sich eines stattlichen Budgets. Rund eine Milliarde Dollar haben Förderer springen lassen, um Fisch- und Planktonbestände numerisch auszudrücken. Und mehr als das. Sämtliche Vertreter der Weltmeere sollen en detail beschrieben werden: wo sie sich rumtreiben, wie ihre Lebensräume beschaffen sind, was sie gerne fressen und von wem sie gern gefressen werden, welche Auswirkungen Meeresströmungen, Klima und vor allem menschlicher Einfluss auf ihr Leben und Überleben haben und so weiter. Unterm Strich sind es drei lapidar klingende Fragen, die CoML bis 2010 beantworten will. Indes, sie klingen, als habe sich jemand kräftig an seinen Ansprüchen verschluckt:
Was hat in den Meeren gelebt?
Was lebt in den Meeren?
Was wird in den Meeren leben?
In jeder Hinsicht sehen sich die Volkszähler mit einer Alien Nation konfrontiert. Biologen schätzen, dass wir erst ein Zehntel aller auf der Erde lebenden Spezies entdeckt haben. Über 90 Prozent wurden nie beobachtet und beschrieben. Zwar fragen Skeptiker mit einiger Berechtigung, wie man Aussagen über die Anzahl unentdeckter Arten treffen könne, solange sie nicht entdeckt seien. So kann man das nicht sehen, kontern die Experten. Wir wissen vielleicht nicht, wer oder was da unten lebt, aber aus Berechnungen — etwa hinsichtlich der Biomasse, die vorhanden sein muss, um einen konstanten Teil des atmosphärischen Sauerstoffs zu erzeugen — können wir immerhin vermuten, wie viele Untertanen das dunkle Reich fasst und wie viele uns bislang verborgen geblieben sind.
Auch wieder wahr. Allerdings liegen die Vermutungen weit auseinander. Manche Gelehrten wollen einige hunderttausend Arten im schwarzen Nass beheimatet wissen, andere kommen auf zehn Millionen und mehr. Fest steht, dass der allergrößte Teil mariner Lebensformen noch gar nicht entdeckt sein kann. Wie auch bei einem erforschten Gebiet von der Größe eines Provinzkaffs? In den oberen Wasserschichten sehen wir wenigstens, was da seiner Wege schwimmt. Je tiefer wir nach unten gelangen, desto blinder werden wir. Anders gesagt, wer heute mit dem Kastengreifer ein kubikmetergroßes Stück Schlamm triefenden Meeresbodens aus dem Grund des Hadals säbelt, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit eine neue Art entdecken. Oder gleich ein paar Dutzend davon.
Das Projekt scheint eines Sisyphos würdig. Dennoch machen die CoML-Forscher einen bodenständigen Eindruck, weit davon entfernt, sich Illusionen hinzugeben. Besucht man etwa das europäische Hauptquartier des CoML im schottischen Oban, ein Ort, der eher bekannt ist für seinen ausgezeichneten Whisky, holt einen Graham Shimmield wieder auf den Boden der Realitäten. »Natürlich berücksichtigen wir auch das Unerforschbare in unseren Planungen«, sagt der Meereswissenschaftler und meint damit: Wir sind zwar tollkühn, aber nicht irre.
Census of Marine Life ist folglich kein schwerfälliges Mammutvorhaben, sondern ein lockerer Verbund vieler Einzelprojekte, die jeweils einen definierten Bereich abdecken. Über zwanzig solcher Projektgruppen teilen sich die Arbeit am
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