Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Erdoberfläche. Und selbst hier gibt es ein paar Einzeller, die das klasse finden. Die Aufgabe der schwefelgesättigten heißen Brühe übernimmt kaltes Methangas, das allerorten hervortritt und teilweise mit Wasser zu Hydrat gefriert. Darauf siedeln kleine, dicke Würmer, Polychaeten, Eiswürmer genannt. Sie machen nicht viel den lieben langen Tag, nur ein bisschen zappeln. Aber es reicht, um mit der Zeit eine Vertiefung ins Eis zu strudeln, ein behagliches Wurmzimmer. Dort leben sie symbiotisch mit Methan knackenden Bakterien, die den Polychaeten ihren Obolus entrichten. Kalte Quellen werden zudem von Riftias schlankem Bruder bewohnt, der weit langlebiger ist als die Verwandtschaft an den heißen Quellen. An Schwarzen Rauchern geht das Leben schneller vorüber, also muss man zügig wachsen. Kalte Quellen sind beständig und die dortigen Würmer nicht zur Eile gezwungen. Mit 200 bis 300 Jahren Lebensalter liegen sie auf den ersten Plätzen der weltweiten Methusalem-Skala.
Eigentlich doch ganz nett im Reich der Bodentiere. Nur ein Problem gibt es, abgesehen von der ständigen Nahrungssuche: Sex. Nicht dass man abgeneigt wäre. Aber im Stockdunklen — zumal wenn man sich langsam zu bewegen pflegt und nicht leuchtet — laufen potenzielle Partner meist an einem vorbei. Manche Bodenbewohner haben sich darum angewöhnt, in paarungswilligen Gruppen zu lustwandeln, zum Beispiel Schlangensterne, Würmer und Seeigel. Da hat man den Partner immer zur Stelle und kann sich dem Fressen und dem Vögeln hingeben, ohne höhere Interessen entwickeln zu müssen.
Ist da jemand?
Tja. Wer lebt hier?
»Wissen wir nicht«, meint Reiner Klingholz mit einem Seufzer der Resignation. Es fehle hinten und vorne an verlässlichen Daten. Nahezu katastrophal sei es um die Kenntnis der Region bestellt, und das bisschen, was man zu wissen glaube, sei nicht hinreichend gesichert. Allein die Namen mancher dort lebender Spezies erführen durch Schreibfehler entsetzliche Mutationen. Zusammen mit anderen Autoren hat Klingholz darum einen dicken Bericht über die desolate Situation verfasst und empfohlen, endlich Transparenz in die demoskopische Tiefsee unseres Landes zu bringen.
Unseres Landes?
Ach ja, Klingholz spricht nicht über das unentdeckte Leben in den Ozeanen. Die Rede ist von Deutschland. Der Mahner arbeitet am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und legt Frau Merkel eine Volkszählung nahe, um herauszufinden, was sich im Bundesbiotop so alles tummelt. Mit den vorliegenden Daten sei schon lange nichts mehr anzufangen, per se nicht mit der Ausländerstatistik. Ein Abbild der Wirklichkeit erlange nur, wer lächelnde Männer und Frauen mit Fragebögen von Haustür zu Haustür schicke.
Dem Innenminister gefällt das Ansinnen, die Grünen laufen sich schon mal warm für den Verfassungskampf. Wer sich der letzten großen Volkszählung entsinnt, besser gesagt des juristischen Tauziehens um den so genannten transparenten Bürger, ahnt Ärger voraus. Es wird auch diesmal nicht beim »255 ... 256 ... 257 ... äh, wo war ich?« bleiben. Andererseits weiß jeder, dass Stichproben keine Alternative darstellen, stützen sie doch bestenfalls Statistiken, nach denen Mama eindreiviertel Kind auf den Knien schaukelt. Volkszählungen sind ein schwieriges Unterfangen. Trotz Tageslicht, Geburtsurkunden und anderen erleichternden Umständen wie Klingelschildern an der Haustür.
Man sollte also jeden, der auf die Idee kommt, eine Volkszählung in der Tiefsee durchzuführen, für unzurechnungsfähig erklären und flugs einweisen lassen. In oberflächennahen Wasserschichten mag es ja noch angehen, die Bevölkerung eines Riffs zu erfassen, wenngleich sich Korallenpolypen, Seepferdchen und Goldmakrelen weder behördlich ausweisen noch einen festen Wohnsitz vorweisen können. Unterhalb von 100 Metern wird es allerdings so dunkel, dass dem armen Demographen wenig mehr bleibt, als vernehmlich »Ist da jemand?« zu rufen. Antworten dürfte er nicht erhalten. Eine Seegurke, die in fünf Kilometer Tiefe durchs Sediment schlabbert, steht kaum im Verdacht, sich ihrer datentechnischen Erfassung unter Anwendung von Rechtsmitteln zu entziehen. Doch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie einen Prozess gegen Herrn Schäuble oder sonst wen anstrengt, immer noch höher, als dass sie überhaupt gefunden wird. Und selbst wenn — fragen Sie mal eine Seegurke: »Wie heißt du denn?«
Genau das versuchen seit Anfang 2000 rund 1.700 Wissenschaftler im Rahmen eines
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