Nachrichten aus einem unbekannten Universum
ehrgeizigen Vorhaben. Auch das Frankfurter Senckenberg-Institut ist mit von der Kahnpartie und blickt in die Tiefsee vor Afrikas Küste. Bei einem Treffen im November 2005 präsentierten die Forscher ein erstes achtbares Ergebnis. Pro Quadratmeter untersuchter Fläche verzeichneten sie bis zu 500 verschiedene Arten. Der Clou daran: Nur 10 Prozent des zutage geförderten Lebens war bis dato bekannt. Der Rest gefiel sich als lebender Beweis für den gern zitierten Satz, wonach wir über die Meere weniger wissen als über die Rückseite des Mondes. Brigitte Hilbig, die das Senckenberg-Projekt koordiniert, übt sich in vorsichtigem Optimismus: »Wir werden natürlich nie wissen, wie viele Arten es in den Meeren gibt. Aber wir können unsere Schätzungen darüber verbessern.«
Und was ist nun da unten? Seegurken, wie wir festgestellt haben. Venuskörbchen und Schleimaale. Einzeller und Walkadaver. Lebendes Feuerwerk. Fische mit Angelruten am Kopf, Staatsquallen und Tintenfische im Vampirkostüm. Haie nicht zu vergessen. Ruderfußkrebschen, komische gläserne Tönnchen mit schleimigem Gedärm.
Pure Schönheit, sagt Dr. Dieter Fiege, Spezialist für marine Ever- tebraten (wirbellose Tiere) am Senckenberg-Institut. »Wenn man einen Tiefsee-Borstenwurm in Spiritus legt, wird er unansehnlich. In ihrer natürlichen Umgebung hingegen prunken die Tiere mit phantastischen Farben und Formen.« Fiege war selbst mehrmals in Wurmhausen und hat dessen Bewohner fotografiert, an ganz verschiedenen Plätzen der Welt und in unterschiedlichen Tiefen. Heraus kam eine Ausstellung, die vor wenigen Jahren für einiges Aufsehen sorgte, weil sich auf den Bildern keine Ekelviecher präsentierten, sondern außerirdisch anmutende Supermodels von biegsamer Eleganz. Praktisch täglich werden neue Würmer entdeckt und rechtfertigen die Entscheidung, nicht Lokomotivführer, sondern Wurmexperte geworden zu sein. Der freundliche Doktor jedenfalls scheint sich schon mal warm zu laufen für den Tag, an dem die Wale endgültig geschützt und die Haie entkriminalisiert sind. Dann werden die Würmer entekelt, von denen auch noch längst nicht alle entdeckt sind.
Nun ja, Würmer.
Unentdeckte Arten, das klingt aber doch eher nach Seeschlangen und Riesenkrabben, nach gewaltigen Ungeheuern mit dolchartigen Zähnen und meterlangen Tentakeln, vielleicht sogar nach Intelligenz und Tiefseestädten. Auf jeden Fall nach großem Kino. Stimmt. Großes Kino hatten wir im Kambrium, im Devon, eigentlich in jeder Erdperiode. Auch heute, nur dass wir entweder an der Leinwand vorbeischauen oder die Akteure meucheln, siehe Haie, siehe Wale. Die überwältigende Mehrheit unentdeckter Organismen offenbart seine bizarre Schönheit sowieso erst unterm Mikroskop. Mittlerweile kennen Sie sich da unten ja schon aus. Es wird Sie folglich nicht überraschen, dass die meisten vor Afrika geborgenen Neuzugänge kleiner sind als ein Millimeter.
Richtig spannend wird es im Erdinneren. 2002 förderte das Forschungsschiff Joides Resolution Bohrkerne aus bis zu 5.000 Metern Tiefe zutage. Dafür drillte sich der Bohrer 420 Meter tief ins Sediment, bis hin zur massiven Basaltkruste. Einige der Gesteine stammen aus dem Oligozän, der Zeit vor 36 bis 24 Millionen Jahren. Und auch darin wimmelt es von Leben, das sich an Kohlenstoffverbindungen gütlich tut, schwer verdaulichen Überbleibseln verendeter Lebewesen. Die Steinbewohner vertilgen die schäbigen Reste so langsam, dass in der Zeit ganze Restaurantketten öffnen und wieder schließen. Wieder zeigt sich, dass die Tiefe vor allem eine Welt der Langsamkeit ist. Bakterien tragen keine Armbanduhr und stellen keinen Wecker.
Immer wieder sind die CoML-Forscher überrascht von der unerwarteten Vielfalt des Lebens unter Wasser. Odd Aksel Bergstadt, der das norwegische CoML-Projekt Mar-Eco leitet, kreuzte 2004 acht Wochen lang mit dem Forschungsschiff G. O. Sars zwischen Island und den Azoren, beides Inseln vulkanischen Ursprungs, um die Biodiversität entlang des Mittelozeanischen Rückens zu studieren. Über 60 Wissenschaftler aus aller Welt rückten dem Unbekannten auf Pelz, Schuppen und Panzer, schickten ferngesteuerte Roboter mit Kameras und Messgeräten in 4.000 Meter Tiefe, lauschten mit hydroakustischen Systemen in die vermeintliche Stille und sammelten planktonische und andere Lebewesen. Das 830-Millionen-Euro-Vorhaben bereicherte den Fundus der Wissenschaft um 80.000 Fische, Quallen und Kopffüßer, von winzigen Larven bis zum
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