Nachrichten aus einem unbekannten Universum
viereinhalb Meter langen Hai. Was im Ruf stand, öde und leer zu sein wie Pjöngjang bei Nacht, erwies sich als Multi-Kulti-Oase, bevölkert von einer Vielzahl nie zuvor gesehener Arten. Die Lebensgemeinschaften an den hydrothermalen Quellen kannte man natürlich, auch das ganze Leuchtvolk und mehr Seegurkenarten, als in ein japanisches Festbankett passen. Dennoch entdeckte man eine neue Art nach der anderen. Und fast alle waren Mikroben.
Immerhin gingen auch höchst ungewöhnliche Oktopoden ins Netz, ausgestattet mit gewaltigen Augen und flügelartigen Riesenflossen, die ihnen das Aussehen flatternder Airbags geben. Molekulargenetisch lässt sich nachweisen, dass diese Bigfin Squids im ausgewachsenen Zustand sieben Meter lange Fangarme entwickeln. Per Sonar entdeckten die Mar-Eco-Teilnehmer außerdem den größten je gemessenen Planktonschwarm, der sich — bedingt durch Meeresströmungen — zu einem perfekten Kreis von zehn Kilometern Durchmesser formiert hatte. In beträchtlicher Tiefe stießen die Forscher auf meterhohe Korallen, die ihren tropischen Verwandten an Schönheit in nichts nachstehen, allerdings mit zwei Grad Celsius kaltem Wasser vollauf zufrieden sind. Verankert in Felswänden unterseeischer Berge filtern sie Kleinstlebewesen aus der Strömung. Das bislang größte entdeckte Kaltwasserkorallenriff liegt vor den norwegischen Lofoten und bedeckt eine Fläche von 100 Quadratkilometern. Das Leben dort ist ähnlich vielfältig wie in unserem australischen Korallenriff. Vor allem — gähn! — Einzeller findet man in immer neuen Varianten.
Gibt es denn gar nichts Spannendes zu vermelden?
Doch, schon. So rätselt Aksel Bergstadt immer noch, was um alles in der Welt sein ferngesteuerter Roboter an den Hängen eines zwei Kilometer tiefen Berges nördlich der Azoren aufgespürt hat. Schnurgerade Reihen mysteriöser Bauwerke nahmen die Kameras da auf, jedes versehen mit einer einzelnen, kleinen Öffnung. Kein Städtebauer hätte die Siedlung exakter planen können. Wie Architektur gewordener Kommunismus ziehen sich die Wohnreihen dahin, zu Hunderten und Tausenden. Trotz intensiver Beobachtung war von den Erbauern weit und breit nichts zu erblicken. Bergstadt würde nicht mal beschwören, dass es sich wirklich um Einzelbauten handelt, ebenso gut könnte ein einziger riesiger Raum im Untergrund liegen, der über viele Zugänge verfügt. Waren blinde Tiefseekrebse am Werk? Oder etwas ganz anderes, von dem wir uns keine Vorstellung machen? Der Gruselfaktor ist gegeben. Der indes interessiert die Leute vom CoML weniger. Sie wollen zählen: Hey, kommt raus aus euren verdammten Löchern, zeigt euch! Nach Größe und Alter aufstellen, wird’s bald? — 1 ... 2 ... 3 ... 4 ... 5 ...
Trotz Erfolgspropaganda müssen sich die Forscher eingestehen, dass man schlecht zählen kann, was man nicht sieht. Hin und wieder zeigt das Sonar der CoML-Expeditionen große Flächen an, von denen sich nicht sagen lässt, ob Schwärme oder unbekannte Riesen unter den Schiffen hindurchziehen. Theoretisch ist dem Größenwachstum eines Organismus im Wasser keine Grenze gesetzt. Allerdings sind gerade die Riesen erklärte Gegner der Volkszählung. Ein planktonisches Krebslein merkt nicht, dass es datentechnisch erfasst wird. Außerstande, den Zähler wahrzunehmen, landet es im Schleppnetz der Statistik. Die Riesen hingegen haben gelernt, sich von den Suchscheinwerfern der Roboter fernzuhalten. Die Vorstellung, dass ein 25 Meter langer Architeuthis knapp jenseits des Lichtkegels in der Nase bohrt, während man nicht mal sicher ist, ob es ihn überhaupt gibt, hat etwas Frustrierendes. Schlimmer noch als Sandkörner zählen. Sand kann einen wenigstens nicht verarschen.
Ungeachtet dessen verbreiten die Leute vom CoML bewundernswerten Optimismus. Schließlich will man seine Kenntnis über das marine Leben auch darum erweitern, um es besser schützen zu können. CoML fördert darum nicht nur die Zusammenarbeit etlicher Wissenschaftler und Institute aus aller Welt, sondern stellt sein Wissen auch einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung. Teilnehmer des Projekts verpflichten sich, mit ihren Entdeckungen nicht hinterm Tiefseeberg zu halten, sondern sie ins Ocean Biogeographic Information System, kurz Obis, einzuspeisen, die gemeinsame Datenbank des CoML. Fünf Millionen Einträge verzeichnet das Internet-Archiv bereits, über 40.000 Arten und ihre Lebensumstände sind dezidiert beschrieben. 250.000 marine Tier- und Pflanzenarten waren bis
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