Nachrichten aus einem unbekannten Universum
müssen wir uns vom Bild einer Welt verabschieden, in der das Leben auf Fortschritt ausgerichtet ist. Die etwas nörgelige Frage an Miss Evolution, warum sie viereinhalb Milliarden Jahre gebraucht habe, um eine des Sprechens und Denkens fähige Spezies aus dem Hut zu zaubern, würde die Dame mit einem Achselzucken quittieren und uns wissen lassen, eine solche Rasse gar nicht angestrebt zu haben. So ernüchternd es klingt, aber die Evolution verfolgt keine höheren Ziele. Sie wird freudig bereit sein, ihr gesamtes Schaffen wieder auf Einzeller umzustellen, wenn es die Umstände erfordern. Schon Darwin hat das klar erkannt. Den Begriff Evolution mochte er nicht, den verantwortet der viktorianische Biologe und Sozialphilosoph Herbert Spencer. Wie so viele Gelehrte suchte auch dieser das allumfassende Gesetz, die Weltformel. Das englische Verständnis von Evolution ist Fortschritt und Entfaltung. Beides erblickte Spencer im natürlichen Treiben, und eben damit hatte Darwin seine Probleme. Er übernahm den Begriff nur, weil er einfacher über die Lippen kam als »Abstammung mit Abwandlung« oder »Überleben der Tüchtigsten«. Darwin glaubte an Weiterentwicklung und Auslese, basta. Einen Fortschritt konnte und wollte er im Œuvre der Natur nicht sehen. Bestimmt hätte er mit der Roten Königin seines Zeitgenossen Lewis Carroll sympathisiert, der es zum Überleben reicht, nicht von der Stelle zu kommen. Doch die wurde erst nach Darwins Tod zum Synonym für den Kampf der Arten.
Die Gleichsetzung von Komplexitätszunahme und Fortschritt leitet sich aus einem Missverständnis ab. 4,5 Milliarden Jahre vergehen, bis endlich der Mensch sein wulstiges Haupt erhebt und beginnt, die Geschichte seiner Vorgänger zu rekonstruieren. Dabei stößt er auf scheinbar eindeutige Anzeichen, die ihn im Glauben bestärken, das gloriose Endprodukt langer Versuchsreihen zu sein. Ihm ist nämlich aufgefallen, dass alles mit primitiven, einzelligen Organismen begann, sodann die Vielzeller folgten, die sich schließlich Rüstungen und Waffen zulegten und einen bilateralen Körperbau entwickelten, dass ihre Vielfalt zunahm, dass sie wuchsen und sich über den Planeten ausbreiteten. Ganz klar ist hier ein Trend in Richtung Höherentwicklung zu erkennen, oder etwa nicht? Selbst die Kreationisten räumen ein, dass Gott in den ersten Tagen das Bühnenbild schuf, dann die Statisten rekrutierte und mit den Hauptdarstellern zum Schluss rauskam, worauf ihm nichts Besseres mehr einfiel.
In Wahrheit fügt die Natur Bestehendem nur Neues hinzu. Manches ist komplex, manches simpel. Einiges verschwindet und wird durch anderes ersetzt, wobei das andere besser, schlechter oder genauso gut sein kann. Im Großen und Ganzen sind Basisleistungen der Evolution unumkehrbar. Was einmal entstanden ist, gilt. Die Erfindung der Vielzeller hat dazu geführt, dass diese seither vorhanden sind. Hartschalen wurden eingeführt und beibehalten. Wesen wie Anomalocaris mögen ausgestorben sein, dafür haben andere Schalenträger ihren Platz eingenommen. Schließlich entwickelten sich die Wirbeltiere, Fische entstanden, die seither im ständigen Ensemble vertreten sind. Die Saurier mussten den Heldentod sterben, aber Echsen gibt es nach wie vor. Insekten, Fische, Säugetiere, Affen, Menschen, sie alle komplettieren einen vitalen Fundus. Wenn es überhaupt so etwas wie Fortschritt gibt, dann nur hinsichtlich der gewachsenen Biodiversität während der letzten viereinhalb Milliarden Jahre. Der Katalog ist dicker geworden. Gut, quantitativ gewiss ein Fortschritt.
Stellen Sie sich eine Party vor, auf der rund fünfzig Leute bester Laune feiern, und nun kommen Sie dazu. Würde man hinterher sagen, die Party sei mit dem Zeitpunkt Ihres Eintretens in eine neue Ära getreten? Würde man nur noch von Ihnen sprechen? Hat die Party einen höheren Entwicklungsstand erreicht, nur weil Sie ein Gläschen mittrinken?
In unserem Weltverständnis scheint es so. Wann immer eine neue, vermeintlich fortschrittliche Variante hinzukommt, lassen wir sie begeistert hochleben und tun so, als spielten alle anderen plötzlich keine Rolle mehr. Nur, wie mehrfach festgestellt, ist die Vielfalt der Einzeller ungebrochen, und die Leute vom CoML entdecken ständig neue. Miss Evolution arbeitet an etlichen Projekten gleichzeitig. Sie kann gar nicht anders, weil ihre Geschöpfe Teil der Randbedingungen sind, auf die alle sich einzustellen haben, wenn sie nicht verschwinden wollen. Je mehr Geschöpfe, desto
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