Nachrichten aus einem unbekannten Universum
verhakte Vielfraß notgedrungen von einer seiner Extremitäten, und die Forschung war um eine Trophäe reicher.
Warum bloß hat es so lange gedauert, den Meister im achtfachen Armdrücken — Nummer neun und zehn sind keine Arme, sondern zwei peitschenartige Tentakel — vor die Linse zu bekommen? Weil er so selten ist? Fast getroffen. Der Hauptgrund ist verzwickter und offenbart das schon bekannte Dilemma der Aquanautik. Wären die ozeanischen Tiefen nicht in biblische Finsternis getaucht, könnten wir allerhand Erstaunliches entdecken, aber wir sind nun mal keine Tiefseefische. Also rücken wir dem Unbekannten mit blubbernden und brummenden Tauchbooten zu Leibe, entflammen starke Halogenscheinwerfer, die vielleicht ein Umfeld von 20 bis 30 Metern erhellen, aber selten unseren Horizont. Frustriert hängen wir im Nichts, ohne den Kalmar zu sehen, der uns sehr wohl wahrnimmt, nur dass er sich nicht muckst. Gallig hat es ein amerikanischer Forscher auf den Punkt gebracht: »Da unten gibt es jede Menge Leben! Das Problem ist, dass es jedes Mal zur Seite geht, wenn wir kommen.«
Nicht nur die Tiefenstürmer starren ins Leere. Auch knapp unter der Oberfläche spielt sich ein frustrierendes Haschmich ab. Zwar entwickeln Meerestiere beträchtliche Neugierde für schwimmende Strukturen, allerdings nicht, wenn diese sich mit dem Feingefühl eines Elefanten nähern. Tauchkonstruktionen machen nun mal Lärm, vollführen unnatürliche Bewegungen und müssen, wenn’s richtig spannend wird, wieder nach oben, damit es den Insassen nicht auf ewig den Atem verschlägt. Roboter können länger und tiefer, das Vertrauen von Kalmar und Co. wecken sie darum noch lange nicht. Was einem blüht, wenn man sich mit unbekannten Tauchobjekten einlässt, davon kann man nach Verlust eines Tentakels Lieder singen — wenn man denn singen könnte.
Folglich wissen wir über das Meeresleben weniger als über die Rückseite des Mondes. Ein Umstand, mit dem sich einer noch nie abfinden mochte: Jacques Rougerie.
Der französische Architekt dürfte geschmeichelt sein, würde man ihn als Verrückten bezeichnen. Er selbst findet Jules Verne verrückt, den er zutiefst bewundert. Verrücktheit ist für Rougerie die Antwort auf Rückständigkeit und Mangel an Phantasie. Seit knapp drei Jahrzehnten konstruiert der Mann, der sich als modernen Kapitän Nemo sieht und stilecht ein Hausboot auf der Seine bewohnt, avantgardistische U-Boote und Siedlungen auf dem Meeresgrund. 1973 beauftragte ihn die NASA mit dem Design eines kompletten »Underwater Village«, später realisierten die Amerikaner sein Projekt Aquabulle, ein transparentes Unterwasserhabitat in 35 Meter Tiefe, zu dem sich Rougerie durch Luftblasen inspirieren ließ. Auch Galathee von 1976, eine Wohnstation, in der sechs Wissenschaftler bis zu einem halben Jahr lang leben und arbeiten können, offenbart seine organische Herkunft auf den ersten Blick: 56 Tonnen Stahl und Glas verbaute Rougerie zu einer Konstruktion, die seltsam lebendig wirkt, als habe sich eine von H. G. Wells’ Marsmaschinen mit einem Frosch gepaart. Für Rougerie ist der Fall klar — an Land blicken wir auf Jahrhunderte tradierter Architektur zurück, die menschlichen Bedürfnissen auf vielerlei Weise gerecht wird, ein Selbstbedienungsladen für Baumeister. Im Reich erhöhten Drucks, zerrender Strömungen und mangelnder Atemluft hingegen sind wir geschichtslos. Woran, so Rougerie, sollen wir uns also orientieren, wenn nicht an den Wesen, die ihren Körperbau den Gegebenheiten ihrer Umwelt mit Bravour angepasst haben?
Folgerichtig setzt der Franzose konsequent auf Bionik. Nicht nur Formen schaut er der Natur ab, sondern auch Funktionen. Die Schlussfolgerung ist meist verblüffend einfach, etwa: Wenn Meeresbewohner motorisierten Gefährten mit Unbehagen begegnen, warum lassen wir den Motor dann nicht einfach weg? So entstand ein kleines Unterwasserlabor, das mit der Strömung driften kann, wie es Quallen und Salpen tun. Ocean to Observe kam dem natürlichen Verhalten seiner Forschungsobjekte ein gutes Stück näher und ermutigte Rougerie, in kühneren Dimensionen zu denken. Schon länger gingen ihm bemannte Tauchstationen durch den Kopf, die rund um die Uhr im Einsatz wären und Tiere anlockten, statt sie zu verschrecken. Er beschäftigte sich mit Auftriebsprinzipien von Staatsquallen und Eisbergen, studierte Seepferdchen und Raumschiffentwürfe der NASA, bis auf dem Reißbrett etwas vollkommen Neuartiges, nie Dagewesenes
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