Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Planktonschwärme die Bahn der SeaOrbiter kreuzen, was wiederum Bartenwale auf den Plan ruft — kurz, nach wenigen Wochen dürfte sich die Station in eine Art Szene-Treff verwandelt haben.
Denn wo soll man sich sonst treffen? Die Hochsee ist eine blaue, einförmige Wüste ohne feste Strukturen. Mitunter treibt der Sturm abgerissene Palmwedel auf die offene See, die zeitweise ganzen Lebensgemeinschaften ein Zuhause bieten. Jede Gelegenheit zur Besiedelung wird dankbar ergriffen, sofern sich das erwählte Objekt nicht durch krawallige Geräusche und zackiges Hin und Her unbeliebt macht. Die still dahingleitende SeaOrbiter könnte ein regelrechtes Staatsgefüge werden und Forschern die unvergleichliche Chance eröffnen, aquatische Gesellschaften in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten — ohne Pause, Tag und Nacht, über Monate hinweg. Tauchend können sich die Aquanauten unters Volk mischen, haben außerdem Zugriff auf zwei bordeigene Mini-U- Boote und kabelgesteuerte Robotkameras, die bis in 600 Meter Tiefe vorstoßen und die Crew mit Echtzeitaufnahmen versorgen. Ein System leistungsstarker Antennen verbindet die SeaOrbiter zudem mit einem Satelliten-Service, der Position, Wetter und Wellenbewegungen aufnimmt und Forschungsdaten weiterleitet.
»Es wird eine neue Art sein, die Unterwasserwelt zu sehen«, meint Rougerie bescheiden. Da untertreibt der Mann. Zu den größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gehört zweifellos, ein tieferes Verständnis der Ozeane zu entwickeln, die immerhin fast 70 Prozent unseres Planeten bedecken. Die SeaOrbiter gestattet einen spektakulären Blick in den Inner Space — nicht von ungefähr erträumt sich Rougerie die Entdeckung unbekannter Lebensformen, was ihm schon mal die gespannte Aufmerksamkeit der CoML-Volkszähler sichert. Doch der Franzose spannt den Bogen weiter, von der Erforschung unterseeischer Gebirgsstrukturen bis zur Untersuchung ozeanischer Biochemie auf Arzneimitteltauglichkeit. Zugleich wird die SeaOrbiter als Schnittstelle zwischen Ozean und Atmosphäre fungieren, die Auswirkungen des weltweiten CO2-Anstiegs messen, den Einfluss steigender Meerestemperaturen auf das Weltklima untersuchen, Schadstoffkonzentrationen erfassen und Prozesse der Bioakkumulation (der Anreicherung von Chemikalien in einem Organismus) dokumentieren.
Rougerie wird nicht müde, den pädagogischen Charakter seines Vorhabens zu betonen. Anders als in der Vergangenheit sollen die Forschungsergebnisse nicht Fachkreisen vorbehalten bleiben, sondern live im Fernsehen gesendet, an Schulen übertragen und ins Internet gestellt werden, ganz nach dem Vorbild von CoML. Speziell jungen Leuten will Rougerie das unbekannte Universum unter Wasser nahe bringen und sie für das empfindliche Gleichgewicht sensibilisieren, das Homo sapiens sapiens nachhaltig stört. Kritik, wonach die SeaOrbiter nichts weiter als ein Kosten verschlingendes Monstrum sei, mit dem sich der Epigone Jules Vernes selbst zu beglücken denke, weist Rougerie strikt von sich: »Es geht mir nicht ums Vergnügen. Wenn ich Träume wahr mache, dann einzig mit dem Ziel, einen realen Wert für die gesamte Menschheit zu schaffen.«
Den hat zumindest die NASA klar erkannt. Wenn in Houston bemannte Weltraummissionen ins Wasser fallen, ist das gewollt: In riesigen Schwimmbecken testen angehende Sternfahrer die Arbeitsbedingungen unter Schwerelosigkeit.
»Im Wasser«, weiß Bill Todd, Leiter des NASA-Tiefseeforschungs- programms NEEMO (NASA Extreme Environment Mission Operations), »nähern sich die Bewegungen und ergonomischen Bedingungen denen im All an.« Allerdings ließe sich die lebensbedrohende Unendlichkeit des Weltraums in braver Überschaubarkeit schlecht simulieren. »Ein Schwimmbad ist nicht sonderlich feindselig«, meint auch der ehemalige Orbitalpilot Scott Carpenter, der 1965 einen Monat lang an Bord der Tiefseestation Sealab III vor Kaliforniens Küste den Alltag an Bord einer Raumstation erprobte. »Wir brauchen größere Räume. Die SeaOrbiter wäre von unschätzbarem Wert für unsere Zwecke.«
In der Tat scheint der Hochdruckbereich wie geschaffen als Trainingszentrum für Astronauten. Aus zwei Gründen. Einerseits ist der umgebende Raum das, was auf Mutter Erde der Unendlichkeit am nächsten kommt, nämlich der offene Ozean. Wer die SeaOrbiter im vollen Weltraum-Ornat verlässt, findet keinen Boden und keine Wände mehr vor, nur endlose Weite, die sich nach unten in Dunkelheit verliert.
Zum anderen sind die
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