Nachrichten aus einem unbekannten Universum
Verhältnisse im Hochdruckbereich denen in einer Raumkapsel oder an Bord einer Raumstation durchaus vergleichbar. Die Aquanauten leben isoliert auf engstem Raum und unter stark veränderten physiologischen Bedingungen. Damit gestattet die SeaOrbiter auch einen Blick in den Inner Space der forschenden Seele: Wie kommen Persönlichkeiten aus verschiedenen Kulturkreisen miteinander aus, wenn sie einander wochenlang auf die Pelle rücken? Entwickeln sich Verantwortungsgefühl, Teamgeist und Freundschaften? Wie viel fehlt zu Mord und Totschlag? Und natürlich: Wie wirkt sich die Belastung durch den hohen ozeanischen Druck auf die Gesundheit aus?
Fragen, an denen die NASA ein vitales Interesse hat. Seit 30 Jahren führt die Behörde mehrwöchige Trainingskurse in einem der dienstältesten Unterwasserlabors der Welt durch. Aquarius liegt sechs Kilometer vor der Inselkette Florida Keys, 20 Meter unter der Meeresoberfläche. Die Ausstattung ist karg, das Raumangebot mit knapp 45 Quadratmetern nicht gerade üppig. Über die Jahre, wie als Bestätigung der These Rougeries, ist Aquarius mit seiner Umgebung verwachsen, überwuchert von Schwämmen und Korallen und bewohnt von allerlei Spezies. Einmal im Jahr quartiert NEEMO hier die Kirks und Spocks von morgen ein und lehrt sie, dass es im wahren Leben weit weniger putzig zugeht als an Bord der guten, alten Enterprise. Die räumliche und soziale Enge zerrt an den Nerven. Von Privatsphäre keine Spur. Rund um die Uhr verfolgen Webcams jeden Schritt. Im NASA-Kontrollzentrum sitzt Big Brother und dirigiert die Wasserbewohner hierhin und dorthin, ebenso wie es im All geschieht. Zudem lebt man in ständigem Dämmerlicht. Nachts zieht teerige Schwärze auf, dass einem jede Leuchtqualle zum Freund wird. Mitunter scheint die Zeit stillzustehen oder dahinzukriechen wie eine der allgegenwärtigen Seegurken ringsum, und wer sich nach kulinarischer Vielfalt sehnt, muss halt am Daumen lutschen und denken, es wär’ ein Würstchen. Wahrlich eine Zerreißprobe im Dienste höherer Ideale.
Eben diese Quälerei schätzt Peggy Whitson. Sie ist Ausbildungsleiterin auf der Aquarius, hat selbst 148 Tage an Bord der ISS verbracht und schwärmt von simulierten Weltraumspaziergängen unter Wasser: »Wir können uns komplett austarieren und dann herumlaufen wie im All. Aber die größte Übereinstimmung sind der umschlossene Lebensraum und die Isolation.« Befürchtungen, mit Astronauten ließe sich keine seriöse Meeresforschung betreiben, lässt sie nicht gelten. Zusätzlich zum NASA-Training nähmen die Raumfahrer schließlich zahlreiche aquatische Forschungsaufgaben wahr, würden Korallen vermessen oder das Verhalten mariner Populationen studieren. Sie selber hat keine Berührungsängste mit Meeresforschung, im Gegenteil: »Ein Aufenthalt an Bord der SeaOrbiter wäre für mich besonders interessant, weil wir kürzlich Korallenriffkartierungen aus der Umlaufbahn gemacht haben. Es ist spannend, die Riffe jetzt auch unter Wasser zu vermessen.«
Sollte Whitson ihr nächstes Training an Bord der SeaOrbiter durchführen, wird sie feststellen, dass es dort um einiges fortschrittlicher zugeht als im ehrwürdigen »Aquarius«, jedoch nicht unbedingt menschenfreundlicher. Auch hier sind Abgeschiedenheit und psychologischer Druck erwünscht. Die Taucher sollen der Meeresoberfläche möglichst nicht näher kommen als neun Meter und schon gar nicht den Kopf aus dem Wasser stecken — so was geht im Weltraum schließlich auch nicht. Der Himmel ist für die Dauer einiger Wochen eben flüssig.
2008 wird die SeaOrbiter nach dem Willen Rougeries ihre erste Reise antreten und mit dem Golfstrom gen Norden treiben. Die Aufzeichnungen dieser Reise werden die längste Periode dokumentieren, die Menschen je dauerhaft unter Wasser zugebracht haben. Danach sind Exkursionen in den Indischen und den Pazifischen Ozean geplant. Bis 2012 will Rougerie sämtliche großen Meere durchkämmt haben. Insgesamt 15 Jahre soll die SeaOrbiter im Einsatz sein, eine Art ISS der Meere, eine International Sea Station. Sechs Monate lang wurde das Modell schon in Europas größtem Meerwassertank bei Trondheim getestet und für tauglich befunden, 15 Meter hohe Wellen wegzustecken. Nur noch wenige Millionen Euro trennen das ambitionierteste Projekt, das je ein Meeresarchitekt entwickelt hat, von seiner Realisierung — ein »nur« allerdings, das Rougerie erhebliche Kopfschmerzen bereitet, denn die meisten seiner Visionen wurden nie
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