Nachrichten aus einem unbekannten Universum
ihren Ungunsten änderten. Die große Sauerstoffvergiftung 2,5 Milliarden Jahre vor unserer Zeit liefert ein gutes Beispiel dafür, wie haarscharf das Leben immer mal wieder am Totalschaden vorbeischrammte. Dass die Erde höheres Leben trägt, verdankt sich dem Umstand, dass schon damals nicht alle Zellen gleich waren. Vielmehr hatten sich verschiedene Zelltypen gebildet, von denen einige das Desaster überlebten. Genetische Durchmischung konnte also nur von Vorteil sein: Organismen entwickelten sich auseinander, eigenständige Spezies entstanden, das Anpassungsspektrum verbreiterte sich. Protosex per Protopenis betreiben Bakterien übrigens heute noch, allerdings mit unerfreulichem Resultat: So nämlich entwickeln sie Immunitäten gegen Antibiotika, mit denen wir sie uns vom Hals zu halten suchen. Ein immerwährender Kampf ist es, den wir da führen.
Evolutionsbiologen nennen ihn den Wettlauf der Roten Königin.
In Lewis Carrols Novelle Alice hinter den Spiegeln, der weniger bekannten Fortsetzung von Alice im Wunderland, trifft Alice auf die Rote Königin, eine Schachfigur von zweifelhaftem Charakter, die mit Hilfe dunkler Mächte ihr Reich regiert. Dort scheinen die Gesetze von Raum und Zeit außer Kraft gesetzt, denn als die Rote Königin Alice zu einem Wettrennen auffordert, kommen beide trotz heftigster Anstrengungen nicht voran. Die Rote Königin läuft wie der Teufel. Alice versucht es ihr gleichzutun, doch nichts um sie herum verändert seine Position. »Ob vielleicht alles mit uns läuft?«, fragt sich Alice verzweifelt, bevor sie keuchend ins Gras sinkt. »Na ja«, sagt sie zu der Roten Königin, die ebenfalls außer Atem angehalten hat, »in unserer Gegend kommt man im Allgemeinen woanders hin, wenn man so schnell und so lange läuft wie wir eben.« Die Rote Königin schüttelt den Kopf: »Behäbige Gegend! Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woandershin zu kommen, muss man noch mindestens doppelt so schnell laufen.«
Die Red-Queen-Theorie beschreibt verblüffend einfach ein höheres Prinzip der Evolution: Wer stehen bleibt, hat verloren. Charles Darwin, der die evolutionären Prinzipien, Auslese und Anpassung, treffend beschrieb, hat diesen Aspekt immer vernachlässigt. Er ging davon aus, dass sich die Kräfteverhältnisse zwischen den Arten schließlich einpendeln würden. Tatsächlich sieht es eher danach aus, als sei das viel zitierte Gleichgewicht der Natur reines Wunschdenken. Die Natur ist nie im Gleichgewicht. An allen Fronten tobt ein unerbittlicher Konkurrenzkampf. Ganz gleich, wie gut sich eine Spezies ihrer ökologischen Nische anpasst, sie muss wachsam sein, denn auch ihre Feinde sind Anpassungskünstler. Im Gegenteil, wer Erfolg hat, muss erst recht ums Überleben fürchten, denn ständig nimmt die Zahl seiner Rivalen zu. Mit allen fiesen Tricks versucht man ihm beizukommen. Folglich erringt niemand je einen entscheidenden Vorteil. Das gilt für den Kampf der Arten ebenso wie für den Wettlauf zwischen Evolution und natürlichen Randbedingungen. Leben wurde möglich, weil es auf die herrschenden Umstände reagierte, Schwarze Raucher besiedelte und sich schließlich davon löste. Als Nächstes lernte es, Sonnenlicht in Energie umzuwandeln. Bei der Gelegenheit veränderte es die Atmosphäre, sprich die Randbedingungen, woran es beinahe selbst zugrunde gegangen wäre, und die Evolution suchte wieder nach neuen Wegen.
Einer ist so lange im Vorteil, bis der andere gleichgezogen hat und zum Überholmanöver ansetzt. Alleine die Mutationsfreudigkeit von Krankheitserregern zeigt, dass Medizin und Pharmazeutik im Rennen gegen die Rote Königin die ewigen Zweiten bleiben werden. Kein Lebewesen dieses Planeten kommt um die atemlose Hetze herum. Unterm Strich kann es froh sein, seinen Platz zu behalten.
Das Rennen gewinnt vorübergehend, wer sich am besten auf seine Gegner einzustellen weiß. Im Universum wimmelt es allerdings von Roten Königinnen. Fast alle Ereignisse, die Anpassung erfordern, treten ohne Vorwarnung ein. Niemand hat den Bakterien verraten, dass die Freisetzung von Sauerstoff aus Sicht der meisten Lebewesen eine Schnapsidee war, sieht man davon ab, dass wir ihr unsere Existenz verdanken. Diverse Spezies würden, wenn sie sich post mortem zu ihrem Aussterben äußern dürften, der Evolution die Krätze an der Hals wünschen und sie allerdümmster Fehler bezichtigen. Aber Miss Evolution ist weit davon entfernt,
Weitere Kostenlose Bücher