Nachrichten aus einem unbekannten Universum
aber nicht vor Verstopfung. War die Idee mit der Handtasche doch nicht so genial gewesen? Schreckliche Vorstellung, Handtaschen würden sich alle halbe Stunde samt Inhalt verdoppeln! Jede Party wäre im Nu geschmissen, die Taschen lägen auf dem Buffet herum und würden den Zugang zur Toilette blockieren, unvorstellbare Mengen Lippenstift und Eyeliner sedimentierten unsere Städte. Vielleicht erhielten wir gar eine andere Atmosphäre mit erhöhtem Parfumanteil, die nur von Menschen wie Karl Lagerfeld geatmet werden könnte.
Man müsste, dachte Miss Evolution, einen Schritt weitergehen und die Zellen daran hindern, sich zu teilen. Aber wie sollten sie sich dann vermehren? Gab es eine Zwischenlösung? Vielleicht, dass sie sich zwar weiterhin teilten, zugleich aber noch mehr spezialisierten — oder besser noch, wenn sie einander finden müssten, um Nachkommen zu zeugen! Ja, das war gut! Hoch spezialisierte Typen von Zellen, die ein Rendezvous nötig hätten, um sich zu vermehren. Erst dieser Kontakt würde eine weitere Zellteilung ermöglichen.
Und welche der beiden Zellen sollte sich dann teilen?
Hm. Das war’s auch noch nicht. Die Rendezvous-Taktik würde die ungehemmte Teilung zwar verlangsamen, aber das Problem bliebe bestehen: dass am Ende doch wieder identische Klone herauskämen. Dennoch schien die Idee der zwei Geschlechter viel versprechend.
Und dann hatte sie’s!
Brächte man ein befruchtendes und ein empfangendes Geschlecht zusammen, entstünde ein genetischer Mix. Ein neues, eigenständiges Individuum würde geboren, ein Baby, während Mama und Papa erhalten blieben. Es trüge die Gene beider Elternteile und wäre dennoch mehr als deren bloße Summe. Voller Stolz geben wir die Geburt einer gesunden Zelle bekannt. So was in der Art. Dafür müsste man das Prinzip der Teilung nicht mal über Bord werfen, ganz im Gegenteil. Nur vom Einzeller müsste man sich verabschieden.
Vielzeller wurden gebraucht.
Womit genau Miss Evolutions dritter Geniestreich begann, können wir nur vermuten. Wahrscheinlich gab es Zellen, die ihr Erbgut durch Teilung zwar verdoppeln konnten, nur dass sich die beiden Tochterzellen nicht mehr vollständig voneinander lösten, sondern wie siamesische Zwillinge aneinander haften blieben. Es entstand ein eigenständiges Wesen, ein Zweizeller, der sein gesamtes Erbmaterial nun in doppelter Ausfertigung besaß und damit weniger anfällig für Mutationen war. Aus dem Zweizeller wurden ein Vierzeller und daraus ein Achtzeller. Endlos ließ sich das fortsetzen, aber die Evolution hatte anderes im Sinn. Ihr Plan war auf Spezialisierung ausgerichtet. Also sorgte sie dafür, dass nur ganz bestimmte Zellen zur Fortpflanzung fähig waren. Dafür modifizierte sie den Teilungsprozess, der bis dahin zu identischen Klonen geführt hatte, indem sie die Teilungssymmetrie aufhob. Die nun entstandenen Zellen verfügten zwar über denselben genetischen Code, waren aber trotzdem unterschiedlich. Mit der Zeit führte dieser Prozess zu einer Arbeitshierarchie. Nur noch größere Zellen konnten sich vermehren. Aus ihnen gingen Keimzellen hervor, die über einen einfachen Satz Gene verfügten und durch Meiose gebildet wurden, die so genannte Reifeteilung. Zwei Arten von Keimzellen bildeten sich heraus: Eizellen, vergleichsweise riesig, dafür aber fest im Trägerorganismus verankert, sowie kleinere, ungemein flinke Keimzellen, befähigt, ihren Trägerorganismus zu verlassen und die Eizellen zu befruchten: Spermien.
Vor rund 1,5 Milliarden Jahren begann der Kampf der Geschlechter — und damit die Geschichte von Zellverbänden, die nicht vernünftig einparken, und anderen, die nicht zuhören können. Die sexuelle Revolution vollzog sich im Proterozoikum. Nicht erst in Woodstock.
Ganz neu war das Prinzip der zweigeschlechtlichen Befruchtung allerdings nicht. So etwas wie Sex hatte es schon im Reich der Bakterien gegeben, die zwar keine zwei Geschlechter kannten, allerdings einen Weg fanden, genetische Informationen auszutauschen. Dazu bedienten sie sich fadenartiger Extremitäten an ihrer Außenhülle, mit denen sie den Gentransfer vollzogen. Sie penetrierten kurzerhand die Hülle ihres Gegenübers und implantierten ihre Gene. Das Ganze diente weniger dem Amüsement als der genetischen Durchmischung mit dem Ziel eines höheren Variantenspektrums.
Im Grunde ist Zellteilung schlimmer als Inzucht im Alpendorf, die Klone sind identisch und würden alle sterben, wenn sich die Umweltbedingungen plötzlich zu
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