Nachruf auf eine Rose
sofort als Fremde erkennen würde, wenn sie sich zu den Wartenden gesellte. So blieb sie im Wagen sitzen.
Die Kinder verließen das Schulgebäude in mehreren Etappen, jede Klasse für sich; sie schubsten und drängten sich durch den engen Durchgang und wurden sofort von den wartenden Erwachsenen in Empfang genommen. Fasziniert starrte Sally auf das Bild, das sich ihr bot: liebende Eltern, die für ihre Kinder sorgten, sie beschützten. Sie hatte nicht gewusst, dass Eltern so sein konnten, und ein befremdlicher Schmerz ließ Übelkeit in ihr aufsteigen. Sie öffnete ihre Handtasche und holte ihre Tabletten heraus, steckte sich eine in den Mund und würgte sie trocken hinunter. Sie schloss die Augen und wartete auf die Wirkung. Fast augenblicklich fühlte sie sich besser, zuversichtlicher und voller Energie. Als sie das braune Fläschchen wieder in die Tasche steckte, fiel ihr Blick auf den Dienstausweis, den sie dieser Polizeibeamtin auf Wainwright Hall abgenommen hatte. Eine natürliche Reaktion auf eine günstige Gelegenheit. Sie ergriff den Ausweis, den Blick unverwandt darauf gerichtet. Den hatte sie ganz vergessen, doch nun, wo sie ihn in der Hand hielt, nahm sie ihn als gutes Omen. Sie steckte sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund und lutschte es gedankenverloren. Bis zu diesem Moment hatte sie nur eine vage Vorstellung davon gehabt, warum sie hierher gekommen war. Es war ihr einfach als der richtige Ort erschienen. Sie könnte dem Kind zum Beispiel auf dem Nachhauseweg folgen und so herausfinden, wo sie wohnte. Vielleicht könnten sie auch in einen Park oder zum Einkaufen gehen. Sie hatte keinen konkreten Plan, doch jetzt war sie sicher, dass sich bald zeigen würde, was sie zu tun hätte. Und in der Zwischenzeit würde sie sich ihrem durch die Tablette ausgelösten Hochgefühl hingeben und warten.
Wendy saß in der Waschanlage hinter einem Mini fest, der, obwohl er sauber war, nicht anspringen wollte. Sicher hatte auch der Fahrer inzwischen erkannt, dass sich alte Minis und Feuchtigkeit schlecht vertrugen. Dicht hinter Wendy in der Schlange standen zwei weitere Fahrzeuge, die darauf warteten, dass sie an die Reihe kämen. Mittlerweile war es kurz vor drei, und es würde ihr kaum noch reichen, rechtzeitig da zu sein, bevor die Kinder herauskämen, auch wenn Bess und Chris meistens zu den Letzten gehörten, die das Gebäude verließen, und stets geduldig auf sie warteten. Die Schule war nur ein paar Minuten mit dem Auto von der Waschanlage entfernt, wenn also dieser Idiot vor ihr die Freundlichkeit besäße, seinen Wagen wegzuschieben, dann könnte sie es vielleicht doch noch schaffen.
Bess wartete auf dem Spielplatz, dass Chris herauskäme. Er war immer einer der Letzten. Da, endlich schlenderte er zur Tür hinaus, wie immer tief in seine Tagträume versunken. Sie rief ihm zu:
«Chris, hier bin ich!»
Er sah auf, lächelte und trottete zu ihr hinüber. Bis auf ein paar Nachzügler waren alle Kinder mittlerweile abgeholt worden.
«Mach zu. Wendy wird sicher gleich da sein.» Sie nahm ihren Bruder bei der Hand und steuerte zielstrebig auf den Ausgang zu. Sie hatten das Tor bereits erreicht, als Bess plötzlich stehen blieb.
«Dein Schuhbeutel, Chris. Wo hast du ihn? Du weißt doch, dass du deine Sachen mit nach Hause nehmen sollst. Geh ihn holen, los, mach schon!»
Gehorsam trabte Chris auf das Schulgebäude zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. Mit seiner Schwester zu streiten, hatte keinen Sinn, also konnte er genauso gut gleich tun, was sie sagte. Der Schuhbeutel hing an seinem Haken. Er griff danach und schwang ihn sich über die Schulter. Dann fiel sein Blick auf einen Mars-Riegel, den jemand auf der Bank hatte liegen lassen. Einen Augenblick lang kämpfte er mit sich, bevor sein Gewissen die Oberhand gewann und er sich umdrehte und hinausging.
Der Spielplatz war leer. Alle Erwachsenen waren schon gegangen, und er war das einzige Kind, das noch da war. Er rief nach seiner Schwester, leise zunächst, dann immer lauter. Keine Antwort. Er eilte hinüber zu dem Klettergerüst und den Schaukeln, doch dort war sie auch nicht. Dann rannte er zurück zum Tor. Er hörte, wie ein Wagen am Ende der Straße viel zu schnell um die Ecke bog; das Motorengeräusch kam ihm bekannt vor. Voller Hoffnung sah er die Straße hinunter. Mit quietschenden Bremsen kam der Wagen zum Stehen, eine Tür wurde zugeschlagen, und Wendy kam auf den Spielplatz gerannt.
«Chris! Gott sei Dank. Es tut mir so Leid, dass ich zu
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