Nachruf auf eine Rose
Ärmelkanal überqueren. Dann wäre es nur noch eine Frage von Tagen, und sie würde irgendwo in Europa untertauchen, mit genügend Geld, um sich über Wasser zu halten, bis sie sich eine neue Identität geschaffen hatte. Dann würde sie ganz neu anfangen.
Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass sie ihr Leben von vorne beginnen würde. Allerdings waren ihr in der Vergangenheit ihre Jugend und ihre mangelnde Erfahrung im Weg gewesen. Nun wusste sie, wie sich eine wohlhabende Frau gab, wie sie lebte, und sie würde ihre Ziele entsprechend höher setzen. Selbst wenn Alex länger in England bleiben sollte, so gäbe es doch sicher den einen oder anderen allein stehenden Gentleman, der sich irgendwo Ferien gönnte und den sie für sich kapern konnte, bevor ihr Geld aufgebraucht wäre. Zu ihrer Verwunderung hatte dieser Gedanke nicht die gleiche wohltuende Wirkung wie sonst, und erschrocken stellte sie fest, dass sie auf dem besten Wege war, ganz und gar von Alex abhängig zu werden.
Sie wischte den Gedanken daran beiseite und konzentrierte sich stattdessen lieber darauf, wie es ihr gelingen würde, die nächsten vierundzwanzig Stunden zu überstehen, ohne in die Fänge der Polizei zu geraten. Ihr größtes Problem war dieser Fenwick. Von selber würde er nicht lockerlassen, also musste sie mit ihm fertig werden. Sie musste einen Plan ausarbeiten, wie sie sich ihn so lange vom Halse halten konnte, um sich FitzGerald vorzunehmen und die erforderlichen Vorkehrungen für ihre Flucht zu treffen. Doch ihr fiel nichts Rechtes ein: Der Mann schien unverwundbar. Offenbar gab es keine Möglichkeit, an ihn heranzukommen. Sie starrte vor sich hin und versuchte sich zu konzentrieren. Eine Tageszeitung der Vorwoche lag auf dem Tisch, ein dünnes Käseblatt voll mit Meldungen von Einbrüchen, Autounfällen, Berichten über diverse Schülerwettbewerbe und Ähnlichem. Eine plötzliche Erinnerung trat in ihr Bewusstsein. Hastig griff sie nach der Zeitung und strich die zerknitterten Seiten glatt. Irgendwo in dieser Zeitung hatte sie seinen Namen gelesen, aber wo?
Rasch blätterte sie die Zeitung durch, bis sie die Bildunterschrift fand, die sie aus irgendeinem Grund in ihrem Unterbewusstsein gespeichert hatte. Das Foto zeigte fünf Schülerinnen und Schüler, die voller Stolz ihre Kassettenrekorder in Händen hielten. In der Mitte stand ein hübsches dunkelhaariges Mädchen mit riesigen braunen Augen, die selbstbewusst in die Kamera lächelte. Und unter dem Foto stand ihr Name: Bess Fenwick von der Grundschule in Harlden. Das musste Chief Inspector Fenwicks Tochter sein.
Ihre innere Stimme schrie ihr förmlich zu, dass der einzige Weg, diesen Mann zu treffen, über sein Kind führte. Sie warf einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhr: zwanzig vor drei. Mit etwas Glück und wenn nicht zu viel Verkehr war, könnte sie es in einer Viertelstunde bis zur Schule schaffen. Sie hatte noch keine Vorstellung, was sie dann tun würde, doch der Gedanke, sich zwischen Fenwick und seine Tochter zu stellen, wäre zweifellos der richtige und würde ihn sicher von seiner Jagd auf sie ablenken. Sie schnappte sich ihren Autoschlüssel und rannte aus dem Haus, ohne die Haustür hinter sich abzuschließen. Was machte das schon? Ab morgen Abend wäre das völlig bedeutungslos für sie. Bei dem Gedanken, die Behaglichkeit dieses Hauses so bald schon wieder hinter sich lassen zu müssen, wurde ihr einen Augenblick lang geradezu übel. Andererseits lockten die Freiheit und ein Neubeginn, und so rauschte sie davon, ohne einen einzigen Blick zurückzuwerfen.
Sie fuhr viel zu schnell und ohne sich Gedanken über die Gefahr zu machen, in die sie sich und andere brachte. Vier Gläser Gin und ihre gesamte Tagesration an Antidepressiva hatten ihren Orientierungssinn völlig durcheinander gebracht, und ihre Gedanken überschlugen sich.
Wie von einer unsichtbaren Macht geführt, fand sie die Schule auf Anhieb. Der Spielplatz vor dem Schulgebäude lag verlassen da, und einen schrecklichen Moment lang glaubte sie schon, den täglichen Exodus versäumt zu haben. Doch dann bemerkte sie die parkenden Autos am Straßenrand und wusste, dass sie gerade rechtzeitig gekommen war.
Die Schulglocke ertönte, und wie auf ein geheimes Kommando stiegen die Fahrer aus ihren Wagen. Die meisten waren Frauen, die nun geduldig vor dem Schultor Stellung bezogen, um auf ihre Sprösslinge zu warten. Fast alle schienen sich untereinander zu kennen, und Sally wurde klar, dass man sie
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