Nachruf auf eine Rose
bereits Blite angerufen und angeordnet, Sally trotz der noch fehlenden Gegenüberstellung aufgrund der neuen Beweislage festnehmen zu lassen, und hoffte, dass dieser bereits nach Wainwright Hall unterwegs war.
«Ich brauche ein paar Hinweise von Ihnen, wie wir sie bei der Vernehmung am besten anpacken.»
«Sie hat eine sehr komplizierte Persönlichkeit, Andrew. Während meines zweistündigen Gesprächs mit ihr gab es Hinweise auf verschiedene Persönlichkeitsstörungen. Zudem habe ich miterlebt, wie sie, kurz bevor sie ging, eine ausgewachsene Panikattacke hatte.»
«Ich habe gerade mit ihr telefoniert. Sie schien völlig in Ordnung.»
«So? Das ist interessant. Auf Inspector Blite hat sie einen derart verstörten Eindruck gemacht, dass er die Gegenüberstellung erneut verschoben hat.»
«Ich bin sicher, sie hat sich verstellt, um ihn dazu zu bringen.»
«Das passt zu meiner früheren Diagnose. Sie zeigt deutliche Symptome einer Reihe von Cluster-B-Persönlichkeitsstörungen; das sind Menschen, die übertrieben dramatisch und extrem emotional reagieren, die zu extremer Selbstsucht neigen, rasch die Beherrschung verlieren und andere zu manipulieren suchen.
Ihre Gefühle sind sehr oberflächlich, und sie unterliegt außergewöhnlich starken Stimmungsschwankungen. Sex ist für sie ein Werkzeug, um Macht und Kontrolle auszuüben, und sie ist völlig auf sich selbst fixiert, ist extrem egozentrisch. Gleichzeitig hat sie das Bedürfnis, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen – das alles sind Symptome, die auf eine histrionische Persönlichkeitsstörung hindeuten. Doch ich persönlich glaube, dass ihr Zustand weit darüber hinaus geht. Sie und Ihre Mitarbeiter haben mir von stark psychotischen Zwischenfällen berichtet, von ihrer extremen Reaktion auf Stress und ihrer Gewaltbereitschaft, was die typischen Charaktermerkmale einer asozialen Persönlichkeit sind. Sie ist in der Lage, einen tiefen Groll gegen jemanden zu hegen, sie traut so gut wie keinem, sie hat keinerlei moralisches Empfinden, kein Gewissen und so gut wie keine Achtung vor der Wahrheit. Ihr Angriff auf Glass zeigt, dass sie zu spontanen Gewaltakten neigt, und ich glaube – wobei ich da nicht ganz sicher bin –, dass sie zu rücksichtslosem und impulsivem Verhalten neigt.»
«Wenn sie so wankelmütig, oberflächlich und instabil ist – wie konnte dann die Beziehung zu ihrem Mann so lange halten?»
«Sie sind noch nicht einmal sechs Monate zusammen, dennoch ist das für eine histrionisch-narzisstische Persönlichkeit schon außergewöhnlich lang. Typisch für diese Art von Persönlichkeitsstörung ist, dass sie versucht, ihn zu manipulieren und zu kontrollieren, wobei sie gleichzeitig die Bestätigung und Bewunderung durch ihn sucht. Wenn er so klug ist, sie in dem Glauben zu lassen, dass sie die volle Kontrolle über ihn hat, dann könnte ihre Beziehung sogar eine gewisse Ausgeglichenheit erlangen; ich halte es in diesem Fall jedoch für möglich, dass seine Macht über sie weitaus stärker ist. Sie scheint auf eine merkwürdige Art von ihm abhängig zu sein, was eigentlich nicht so recht zu einer typischen Cluster-B-Persönlichkeit passt. Meines Erachtens liegt die Ursache dafür in ihrer Kindheit begründet. Dadurch, dass ihr Vater sie als Kind so vollkommen beherrschte, hat er ihr jede Möglichkeit auf eine normale Entwicklung genommen. Als er sie zu sexuellen Handlungen zwang, war sie noch so jung, dass sie von heute auf morgen aufhörte, Kind zu sein. Tief in ihrem Inneren ist da aber noch das kleine Mädchen, das verzweifelt nach Rat und Anerkennung sucht.»
«Ist es möglich, dass diese Persönlichkeit neben den anderen Störungen existiert?»
«Das glaube ich, ja.»
«Ist sie gefährlich?»
«Ja. Sie hält sich nicht an die normalen Regeln des zwischenmenschlichen Zusammenlebens, und ihre Aggressionsbereitschaft und die Tatsache, dass sie kein Gewissen hat, machen sie zu einer potentiellen Gefahr, besonders dann, wenn sie sich bedroht fühlt. Das könnte zu völlig unberechenbarem und gewalttätigem Verhalten einem vermeintlichen Feind gegenüber führen.»
«So gewalttätig, dass sie auch töten würde?»
«Um das definitiv zu beurteilen, bräuchte ich mehr Zeit, doch unter uns gesagt, ja, ich halte sie durchaus für fähig, einen Mord zu begehen.»
Sally schritt die Eingangshalle auf und ab und ging ihren Plan immer wieder durch. Nur noch vierundzwanzig Stunden, dann würde sie ihr Erspartes abholen und mit dem Boot den
Weitere Kostenlose Bücher