NachSchlag
Schlüsselepisode vor sich, fühlte nochmals, wie sie den Schlüssel in einen weichen Kinderkörper bohrte, sah sich selbst rasch zurückweichen und einen Halbkreis um das zusammenzuckende Geschöpf bilden, sah, wie das freche Grinsen auf dem jungen Gesicht erlosch.
Das empfand sie stets als sehr, sehr wohltuend.
Und schämte sich jetzt im Bett dafür.
Wieso eigentlich?
, begehrte eine rebellische Stimme in ihr da auf. Weshalb quälten sie solche Schuldgefühle? Die kleinen Monster hatten doch diese Strafe mehr als verdient!
Aber sie, Marit, wollte den Ruf haben, eine perfekte, liebe, gütige Lehrerin zu sein.
Ja, das wollte sie wirklich!
Sie konnte ihren eigenen Schatten nicht annehmen.
In den Schatten lauerte zu viel Unnennbares. Der Vater, der nicht nur geschlagen hatte, sondern auch Alkoholiker gewesen war. Und darüber hinaus … ja, sein Schatten war ein gigantischer Abgrund, mit Finsternis gefüllt …
War es da ein Wunder, dass sie ihn nicht sehen wollte, ihn leugnete?
Im Leben ihrer kleinen Tochter sollte es so etwas nicht geben. Sie sollte ein strahlendes Lichtkind sein, das süße kluge perfekte Kind einer perfekten Mutter.
Damit sich das auch wirklich so entwickelte, hatte Lea schlicht und ergreifend ein braves Kind zu sein.
Und sie
war
brav.
Vom lieben ruhigen Säugling, der niemals schrie, hin zum Krabbel- und Kleinkind, das stets auf die Mama hörte und nicht quengelte, nicht einmal dann, wenn man ihm etwas wegnahm. Die wenigen Bekannten Marits, auch Mütter in ihrem Alter, waren voller Bewunderung, da sie selbst von ihren kleinen Tyrannen oft bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs getrieben wurden, aber es gab auch welche, die es bedenklich fanden, dass die kleine Lea wie »stillgelegt« wirkte. »Das ist doch nicht normal«, empörten die sich, »ein Kind sollte auch mal laut, frech, wild sein!«
Sie hatten das Unwort FRECH ausgesprochen, diese Mütter, und wurden von Marit umgehend aus ihrem Bekanntenkreis entfernt.
Nach solchen Erlebnissen schien die kühle, unnahbare Frau immer noch ein wenig ernster und strenger zu werden.
Eine von Leas frühesten Erinnerungen drehte sich darum, dass sie es als ihre Pflicht empfand, ihre Mutter zum Lachen oder wenigstens zum Lächeln zu bringen. Natürlich hätte die Zweijährige es niemals so ausgedrückt. »Ich muss meine Mama glücklicher machen …« Nein, auch so abstrakt hätte sie nie gedacht. Höchstens: »Mama ist immer traurig, ich will, dass Mama lacht …« Denn tief in ihr herrschte das klamme diffuse Gefühl, dass sie, Lea, Schuld war am allzu ernsthaften starr-melancholischen, herben Gemütszustand der Mutter. Und dass es deshalb auch in ihrer Macht liegen musste – denn Kinder halten sich zugleich für allmächtig als auch für völlig hilflos und zerbrechen oftmals an diesem Paradoxon – diesen Zustand zu ändern. Es musste ihr einfach nur das Richtige einfallen
.
Und die kleine Lea hatte ja viel Zeit zum Nachdenken
.
Für Marit war es selbstverständlich, dass ihre Tochter hochbegabt war. Nicht nur einfach aufgeweckt oder intelligent, nein, es steckte ohne Zweifel ein kleines Genie in ihr. Es musste so sein. Sie sprach und sang ganz früh, wenn auch nur leise, denn Marit, von dem Höllenlärm der Schulkinder stets entnervt, mochte es nicht, wenn zu Hause laute Stimmen ertönten. Außerdem malte Lea tolle Bilder, ihrem Alter weit voraus, und kurz bevor sie in den Kindergarten kam, begann sie mit etwas ganz Phantastischem: kleinen Sketchen und Vorführungen, kurzen, selbst erdachten Mini-Stücken.
Marit hatte noch nie gehört, dass ein so kleines Kind so etwas konnte. Sie war begeistert und stolz und fast zu Tränen gerührt, ein Lachen zog über ihr schmales leicht verhärtetes Gesicht, und bei solcher Gelegenheit, wenn Lea eins ihrer »Stückchen« aufführte, nahm sie das Kind ausnahmsweise in die Arme. Lea genoss die knochige, harte und hastige Berührung in vollen Zügen, vermied es aber sorgsam, sich an die Mama zu klammern, da sie genau wusste, das mochte Marit nicht, dann wand sie sich unwirsch aus der Umarmung.
Manchmal baute Lea ihr Spielzeug richtig theaterhaft auf, benutzte es als Requisiten, manchmal nahm sie ihren Teddy als Spielpartner und setzte ihn richtig geschickt ein, oder sie verkleidete sich mit einfachen Mitteln, etwas Stoff, einer Kordel, einem mit Tuschegold bemalten Papierhut …und vollführte ein paar dramatische Bewegungen, um dann wieder stillzustehen.
Es war ein Spiel für sie, und doch war es
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