NachSchlag
die gefesselte Lea stundenweise allein in der Wohnung. Dadurch verhinderte man den plötzlichen Kindstod, hieß es, und wenn man wieder da war, konnte man sich ja besonders liebevoll um den Nachwuchs kümmern, ihn für diese Zeit entschädigen. Es wiedergutmachen.
Natürlich zwickte sie doch das schlechte Gewissen, immer wieder. In der großen Pause huschte sie von der nahen Schule herüber, um nach der Kleinen zu schauen. Lea war ein verblüffend stilles und ruhiges Kind und blieb das auch, lange Zeit. Sie konnte stundenlang irgendwo sitzen oder liegen und vor sich hin träumen, fast regungslos.
Marit lächelte jedesmal, wenn sie ihr Kind sah, wie es ihr mit großen träumerischen Augen entgegensah, die kleinen Händchen schwach zu bewegen versuchte, vermutlich wollte es die Arme nach der Mama ausstrecken, was nicht gelang, da die gut festgezogenen Gurte es daran hinderten.
Was für eine brave liebe Tochter ich habe
, dachte Marit dann vage, strich dem Kind flüchtig über das Köpfchen und eilte wieder zurück zur Schule, den mahnenden Klang des Pausenendegongs im Ohr.
In Marits Träumen erschien manchmal ihr Vater, der sie schlug, und ihr freundlicher Großvater, der sie kummervoll ansah. Zweifache Strafe für die Art und Weise, wie sie ihr Kind behandelte … sie verdrängte den einen wie den anderen in das Zwischenreich des Unbewussten, verhärtete sich dagegen, dass irgendeine mahnende Stimme, sei sie hart oder liebevoll, sich FRECH in IHR Leben EINMISCHTE.
An der Schule war es stets das Empörendste in ihren Augen, wenn ein Kind sich FRECH verhielt, das hasste Marit am meisten, und obwohl ihr das moderne Schulsystem nur wenig Raum dafür ließ, fand sie Mittel und Wege, solches Fehlverhalten fies abzustrafen.
Zum Beispiel die Schlüsselmethode. Wann immer Marit Pausenaufsicht hatte, trug sie heimlich versteckt ein Schlüsselbund bei sich, dessen hart-spitze Schlüsselbärte sie besonders unverschämten rüpelhaften Jungs oder sogar Mädchen (solche gab es, tatsächlich!) sehr heimtückisch in die Rippen stieß. Manche krümmten sich geradezu darunter oder gingen gar in die Knie, und Aufsichtsperson Marit zog dann umso zufriedener ihre Runden, geradezu erleichtert. Selbstverständlich meldete sich auch nach solchen Handlungen ihr schlechtes Gewissen irgendwann, wurde aber in eine finstere und staubige Gemütsecke verbannt.
Immer wieder der Stolz. Der sich wie eine gigantische Staumauer aufbaute … eine Mauer, über die sie selbst bald keinen Blick mehr zu werfen wagte, denn was mochte dahinter lauern? Manchmal ahnte Marit, dass es ANGST war. Die nackte Furcht zu versagen, nicht perfekt zu sein. Lebensangst. Todesangst. Angst, ihrem Kind könnte etwas geschehen. Ein Unfall. Plötzlicher Kindstod. Entführung. Wie gut, dass es meistens festgebunden war. Im Gitterbettchen. Später dann saß es im Laufstall, und es störte die Mutter überhaupt nicht, dass die Kleine recht spät das Laufen lernte.
Die Arbeit als Lehrerin war hart, sehr hart, und der Job lag Marit überhaupt nicht. Immer wieder einmal dachte sie an ihr unterbrochenes Studium. Hätte sie es nur abschließen können.
Aber dafür habe ich Lea
, sagte sie sich trotzig und stolz.
Wenn die Angstwogen über die Staumauer zu schlagen drohten, nahm die nervöse, dünne Frau Tabletten. Oder trank auch mal ein Bier. Auch mehr als eins. Ungern zwar, denn eigentlich hasste sie Alkohol. Doch die Schuldgefühle und die damit verbundene klamme ungewisse Furcht wollten betäubt werden. Egal womit.
Einige Lehrerkollegen zeigten Leas Mutter eine Art scheuer Verehrung, der eine oder andere versuchte sogar um sie zu werben, doch Marit, die auf knabenhafte Weise sehr attraktiv aussah, wies sie alle mit ausgesuchter Kühle ab.
In ihrer inneren Unruhe begann sie, abends wieder für jenes erste, abgebrochene Studium zu lernen, und ihr Ehrgeiz wuchs, als sie spürte, wie sehr ihr das lag und wie begabt sie dafür war. Tief in der Nacht war sie dann meist zu müde, um Leas Windeln zu wechseln. Außerdem tat diese kleine Härte, diese geringfügige Unbequemlichkeit, dem Kinde sicherlich nur gut. Lehrte es Disziplin. Alles andere, auch zu viel Gestreichel und Gekose, führte nur zur Verweichlichung!
Oftmals in diesen Stunden, da sie nicht einschlafen konnte, noch nicht einmal mit Hilfe einer starken Tablette, ließ Marit zwanghaft den vergangenen Arbeitstag an ihrem inneren Auge vorüberziehen. War sie perfekt gewesen? Natürlich nicht.
Sie sah wieder eine
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