Nachschrift zum Namen der Rose
der Lektüre des Buches sagte mir
eine Freundin: »Mein einziger Einwand ist, daß William nie eine
Regung von Mitleid zeigt.« Ich erzählte das einem anderen
Freund, der mir antwortete: »Sie hat recht, das ist der Stil seiner
pietas.« So mag es gewesen sein. Und so sei es.
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Die Paralipse
Adson verhalf mir auch zur Lösung eines anderen Problems.
Ich hätte die ganze Geschichte in einem Mittelalter ansiedeln
können, in welchem alle Beteiligten immer wußten, wovon die
Rede war. Wie in einer Geschichte von heute: Wenn in einer
Geschichte von heute jemand sagt, daß der Vatikan seine
Scheidung nicht billigen würde, braucht er nicht groß zu
erklären, was der Vatikan ist und warum er die Scheidung nicht
billigt. In einem historischen Roman, also einer Geschichte aus
ferner Vergangenheit, kann man so nicht verfahren, denn man
erzählt sie ja auch, um uns Heutigen besser begreiflich zu
machen, was damals geschehen ist und inwiefern das damals
Geschehene uns noch heute betrifft.
Die Gefahr ist dabei der »Salgarismus«10: Salgaris Personen
fliehen, gehetzt von Feinden, in einen tropischen Urwald,
stolpern über eine Baobabwurzel - und schon suspendiert der
Autor die Handlung, um uns einen Vortrag über Affenbrotbäume
zu halten. Heute ist diese Methode zum Stereotyp geworden,
liebenswert wie die Schwächen derer, die wir sehr lieben, aber
kaum nachahmenswert.
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Ich habe Hunderte von Seiten umgeschrieben, um dieser
Gefahr zu entgehen, aber ich kann mich nicht entsinnen, mir
jemals beim Schreiben bewußt geworden zu sein, wie ich das
Problem im Einzelfall löste. Erst zwei Jahre später bin ich
darauf gekommen, und zwar genau als ich mir zu erklären
versuchte, warum das Buch auch von Leuten gelesen wird, die
eigentlich derart »anspruchsvolle« Bücher kaum mögen
können. Adsons Erzählstil beruht unter anderem auf jener
Denkfigur, die in der Rhetorik Paralipse oder Präterition
(»Auslassung«) genannt wird. Illustres Beispiel: »Ich schweige
davon, daß Cäsar an allen Gestaden ...«11 Man sagt, man wolle
von etwas nicht weiter sprechen, und tut es dann doch
(wodurch es sich um so besser einprägt). Dies ungefähr ist
Adsons Methode, wenn er auf Personen oder Ereignisse
anspielt, als ob sie dem Leser bestens bekannt wären, und sie
dennoch erklärt. Anderes, was seinem Leser (als einem Deut-
schen am Ende des 14. Jahrhunderts) nicht so bekannt sein
konnte, weil es zu Anfang des Jahrhunderts in Italien geschehen
ist, erklärt er dagegen ungehemmt, und zwar in belehrendem
Ton, denn dies war der Stil des mittelalterlichen Chronisten, der
enzyklopädische Kenntnisse einbringen wollte, wann immer er
etwas benannte. Nach der Lektüre des Buches sagte mir eine
Freundin (nicht dieselbe wie oben), sie hätte sich über den
»journalistischen« Ton der Erzählung gewundert, der weniger
einem Roman entspreche als einer Reportage, einem Espresso-
Artikel.12 Ich war zunächst betroffen, dann ging mir allmählich
auf, was sie erfaßt
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hatte, ohne es zu begreifen: So nämlich erzählten die Chronisten
jener Epoche, und daß wir heute bei Reportagen noch gern von
Chroniken sprechen13, liegt daran, daß man damals so viele
Chroniken schrieb.
6 »Auf dem Tisch neben dem glimmenden Fäßchen lag aufgeschlagen
ein großes farbig bemaltes Buch. Ich trat näher und entdeckte vier
Streifen von verschiedener Farbe: gelb, zinnober, türkis und hellbraun.
Darauf ein schrecklich anzusehendes Untier, ein Drache mit zehn
Köpfen, der mit dem Schweif die Sterne am Himmel erfaßte und
niederwarf auf die Erde. Und plötzlich vervielfachte sich der Drache...«
(Adson von Melk in Der Name der Rose, S. 221)
Der Atem
Die langen erläuternden Einschübe hatten indessen noch
einen anderen Grund. Nach der Lektüre des Manuskriptes
meinten die Freunde im Verlag, ich sollte die ersten hundert
Seiten ein wenig kürzen, sie seien zu anspruchsvoll und
ermüdend. Ich hatte keinerlei Zweifel, ich lehnte ab mit dem
Argument: Wer die Abtei betreten und darin sieben Tage
verbringen will, muß ihren Rhythmus akzeptieren. Wenn ihm
das nicht gelingt, wird er niemals imstande sein, das Buch bis
zu Ende zu lesen. Die ersten hundert Seiten haben daher die
Funktion einer Abbuße oder Initiation, und wer sie nicht mag,
hat Pech gehabt und bleibt draußen, zu Füßen des Berges.
Der Eintritt in einen Roman ist wie der Aufbruch zu einer
Bergtour: Man muß sich an einen Atem gewöhnen, an
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