Nachsuche
noch etwas in den Sinn kommt. Die meisten kennen ihn und versprechen bereitwillig, sich zu melden. Aber alle wissen ebenso gut wie er, dass sie es kaum tun werden.
Mit dieser mageren Ausbeute kehrt Noldi nach Turben-thal zurück. Er beschließt, beim Ehriker Beck vorbeizufahren und einen Nachtisch für den Abend zu kaufen. Und eine Kleinigkeit für sich selbst. Er findet, das habe er sich verdient. Doch bevor er den Laden betreten kann, ereilt ihn der dritte Hinweis dieses Tages in Gestalt einer Tibeterin aus Rikon. Sie ist schon als Kind in die Schweiz gekommen. Ihr Name lautet Khandro Wangmo, aber im Dorf heißt sie bei allen nur Kathi. Seit sie eine Praxis für tibetische Massage eröffnet hat, hört sie diesen Schweizer Namen nicht mehr gern.
Sie kommt im dümmsten Moment daher. Noldi ist gerade mit der Entscheidung beschäftigt, ob er sich ein Eclair oder eine Cremeschnitte gönnen soll.
»Herr Oberholzer!«, ruft sie.
»Hallo, Kathi«, sagt er mürrisch.
Er kennt die Frau noch aus der Zeit, als es mit ihrem halbwüchsigen Sohn Probleme gab. Damals hieß es, der Junge habe im tibetischen Kloster an der Wildbergstraße Geld aus dem Spendenkorb gestohlen. Der Verdacht konnte allerdings nie bewiesen werden. Inzwischen ist von dem Jungen nicht mehr die Rede, dafür umso mehr von der Mutter, die eine auffällige Erscheinung ist mit ihren Gewändern und dem ein wenig exaltierten Gehabe.
»Herr Oberholzer«, wiederholt sie wichtig, »die Leiche da im Wald, vielleicht ist eine Klientin von mir.«
»Woher hast du von einer Leiche gehört?«, erkundigt sich Noldi.
»Ach«, sagt sie und lacht, »weiß jeder schon in Turbenthal. Fitnessstudio«, fügt sie noch hinzu, »große Telefonzentrale.«
Noldi knirscht innerlich mit den Zähnen. Dann denkt er sich, je mehr davon wissen, desto größer die Chance, herauszufinden, wer sie ist.
»Wie kommst du darauf?«, fragt er Kathi.
»Das war so«, erzählt sie, »eine neue Klientin ist in die Praxis gekommen, war so begeistert. Sie hat gleich fünfzehn Sitzungen gebucht, fix und fertig mit Datum. Aber«, sagt Kathi, »gekommen ist bis heute nicht.«
»Also wirklich«, sagt er, »das geht zu weit, dass ich hinter deinen Kunden herjage.«
»Ist nicht so«, sagt sie und zieht ihn am Arm zu sich herunter.
»Ich habe Angst«, flüstert sie beschwörend. »Ist in Gefahr, die Frau. Habe ihre Wesenheiten gesehen. Ehrlich.«
»Wesenheiten«, wiederholt Noldi verständnislos.
»Ja, ja«, bekräftigt sie. »Vielleicht schon tot.«
Noldi befreit sich aus ihrem Griff und richtet sich wieder auf.
Natürlich hat er davon gehört, dass sie neben den tibetischen Heilanwendungen ganz andere Praktiken, vor allem sogenannte Lebensberatung, sprich Wahrsagerei, betreibt. Er kann sich sogar vorstellen, dass ihr exotisches Aussehen und ihr Verhalten gewisse Leute hypnotisieren.
»Weißt du, wie sie heißt?«, fragt er.
Kathi schüttelt heftig den Kopf. Sie hat den Namen nicht verstanden und sich geschämt, nachzufragen. Sie weiß nur, die Frau kommt aus Wila und hat einen komischen Vornamen. »So irgendwas wie Klo«, sagt sie kichernd.
Unverbesserlicher Optimist, der er ist, spekuliert Noldi unverdrossen auf eine echte Spur.
»Wie alt ist sie?«, fragt er.
»Mindestens sechzig«, antwortet Kathi prompt.
Zu alt, denkt er enttäuscht. Aber er wird der Sache trotzdem nachgehen. Bekanntermaßen tun sich die Tibeter mit dem Alter von Europäern schwer.
Er klopft ihr auf die Schulter.
»Na schön«, sagt er, »gib mir deine Telefonnummer. Du hörst von mir.«
Er verzichtet auf einen Einkauf in der Bäckerei und fährt direkt zurück ins Büro, prüft dort im Telefonverzeichnis, ob es in Wila eine Frau mit diesem komischen Vornamen gibt. Er findet keine, dafür aber eine Claudia Stüdeli, denkt, das könnte sie sein, und ruft an.
Frau Stüdeli ist zu Haus, sie lacht schallend los, als sie hört, warum er telefoniert.
»Ach«, sagt sie, »lassen Sie mich mit der Person in Ruhe. Die hat geredet wie ein Buch, von meinen Wesenheiten, die schief hängen und zurechtgerückt werden müssten. Dabei hat sie mit ihren Händen vor meinem Gesicht herumgefuchtelt. Energiearbeit nannte sie das. Zugegeben, ich war fasziniert. Aber dann, auf dem Heimweg, habe ich mich plötzlich gefragt, woher will die das von meinen Wesenheiten wissen? Und habe beschlossen, das geht niemand etwas an. Deshalb bin ich nicht mehr hingegangen. Bezahlt habe ich ja noch nichts.«
Darauf wählt er die Nummer, die Kathi
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