Nachsuche
ihm gegeben hat, bringt es aber nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Er mag die Frau und bewundert ihre Geschäftstüchtigkeit.
»Tut mir leid«, sagt er deshalb, als sie sich meldet. »Nichts gefunden. Und die Tote im Wald ist viel jünger. Wahrscheinlich meldet sich deine Kundin noch.«
Dann schaut er auf die Uhr. Höchste Zeit, Schluss zu machen, denkt er. Zu Hause warten sie sicher schon auf ihn. Es ist Freitagabend.
Eilig fährt er den Computer herunter. Dann überlegt er es sich, setzt sich noch einmal hin, sucht eine leere Mappe und schreibt von Hand auf einen Zettel Datum, Uhrzeit und die wichtigsten Angaben zu dem Leichenfund vom Morgen. Bei Name, Alter und Todesursache der Frau macht er große Fragezeichen. Dafür vermerkt er Namen, Adresse und Autonummer von Rüdisühli, die Namen des diensthabenden Arztes, des Staatsanwaltes und der Kollegen von der Spurensicherung. Dann hält er die mageren Ergebnisse seiner Befragungen im Neubrunnertal fest. Er weiß selbst nicht recht, warum er diesmal so gründlich vorgeht. Sonst hat er schon Fälle gelöst, bevor er auch nur eine Zeile niederschrieb. Aber eben, es hat sich noch nie um eine nackte Frauenleiche im Neubrunner Wald gehandelt.
3. Holzschlag
Am Wochenende feiert die Familie Oberholzer ein großes Fest. Noldis erster Enkel wird getauft. Er soll Mark heißen.
Die Zeremonie findet in der Kirche Zell statt, die auf den Ruinen eines römischen Gutshauses erbaut wurde. Man kann die Überreste des alten Mauerwerks noch unter dem Kirchenschiff besichtigen. In der Sakristei, die wesentlich älter als die Kirche ist, hat man kürzlich die Fresken aus dem 14. Jahrhundert restauriert.
Die Kirche selbst ist ein großer heller Raum mit schlichten Holzbänken und Glasfenstern eines Winterthurer Künstlers. Der Taufstein befindet sich vor dem Chor, wo sich jetzt die ganze Familie versammelt.
In der ersten Reihe sitzen die Eltern und Geschwister, in ihrer Mitte Fitzi, den Kleinen auf dem Arm. Sie ist die stolze Taufpatin. Meret hat ihr zu diesem Anlass ein Kleid aus mitternachtsblauem Samt gekauft. Dazu trägt sie ihre ersten Schuhe mit halbhohen Absätzen.
»Pass auf, dass du mit diesen Stöckeln nicht samt dem Täufling stolperst«, hänselt Verena ihre jüngere Schwester.
Fitzi in ihrer trockenen Art antwortet prompt, sie hoffe nur, der Bengel werde bei der Taufe nicht so brüllen, dass sie ihn vor Schreck fallen lasse.
Der Junge ist für seine zwei Monate kräftig und überaus lebhaft. Er dreht während der Zeremonie den Kopf hin und her. Schaut ihn einer freundlich an, strahlt er über das ganze kugelrunde Gesicht. Als das kalte Taufwasser über seine Stirn rinnt, ist er so fassungslos, dass Noldi fast sein Taschentuch verschluckt, um nicht laut herauszulachen.
Nach der Zeremonie stehen alle mit dem Pfarrer und dem Sigrist vor der Kirche für das Gruppenbild. Der Tag ist unerwartet mild und durch feine Nebelschleier scheint die Sonne.
Noldi ist außer sich vor Stolz, als er seinen Enkel auf dem Arm halten darf. Er lässt sich mit Meret und dem Jungen fotografieren. Das Bild will er bei der nächsten Einsatzbesprechung in Winterthur herzeigen und sagen, das sei sein Jüngster. Seine Frau gefällt ihm in ihrem neuen Kostüm aus leicht schimmerndem dunkelbraunem Taft so gut, dass er ihr ins Ohr flüstert, sie sei die rassigste Großmutter der Welt. Meret wird, noch nach vierundzwanzig Jahren Ehe, vor Freude rot und stößt ihm liebevoll den Ellbogen in die Rippen.
»Erinnerst du dich«, flüstert sie, »wie wir Verena getauft haben?«
»Und wie wir sie gemacht haben«, gibt Noldi grinsend zurück.
Als sie frisch verheiratet waren, wollte Noldi seiner jungen Frau das Tösstal zeigen.
Sie fuhren mit dem so genannten Goldküsten-Express den Zürichsee entlang nach Rapperswil. Dort tranken sie im Café jeder ein Glas Fendant, schauten auf den See, die Schwäne, die vielen weißen Segel auf dem Wasser, die meiste Zeit aber einander in die Augen. Dann stiegen sie in den Tösstaler, der damals noch von Rapperswil nach Winterthur fuhr.
»Du musst am Fenster sitzen«, bestimmte Noldi. »Ich kenne die Gegend, seit ich denken kann.«
Zu Beginn der Fahrt gab er sich gewandt als Fremdenführer. Das Tösstal, erklärte er, beginne erst in Fischenthal. Dort sei die Wasserscheide. Die Jona fließe nach Rapperswil und in den Zürichsee, während es in die entgegengesetzte Richtung nur einen kleinen Bach gebe.
Er zeigte Meret den Tössstock.
»Aus ihm«,
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