Nacht
ein Ja.
»Aber jetzt gleich, sonst kommt ihr zu spät. Sie ist schon am Frühstücken. Ich muss los.«
Mit dem Handrücken reibe ich mir die Augen. Für einen Moment sehe ich alles verschwommen, aber dann wird es mir klar: Ich habe eine neue Geschichte geschrieben.
Jenna geht. Ich höre, wie die Tür zufällt. Ich lasse mich aus dem Bett gleiten und suche nach dem violetten Heft. Es liegt dort auf dem Boden, geschlossen, der Stahlfüller daneben. Der Schrank ist offen. Ich muss im Schlaf aufgestanden sein, um den Füller aus der Tasche und das Heft aus seinem Versteck zu holen.
Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen, in der Hoffnung, dass sich alles in Luft auflöst. Doch jede Einzelheit steht deutlich vor mir, absurd und doch greifbar.
Warum habe ich schon wieder so etwas geschrieben? Ich kann gerade noch denken, dass ich mich furchtbar geirrt haben muss, dass Tito und seine Sekte vielleicht doch nicht hinter alldem stecken. Dass mich zwischen den Seiten des Heftes ein weiterer schrecklicher Mord erwartet und ich folglich die Serie der Verbrechen nicht gestoppt habe. Da taucht Lina in meiner Tür auf. Sie wartet auf mich, schweigend wie immer.
Ich ziehe an, was gerade herumliegt, werfe einen kurzen Blick in den Spiegel und stelle mal wieder fest, dass ich trotz der unablässigen Kopfschmerzen und der quälenden Träume strahlend aussehe.
Lina beobachtet mich. Dann kommt sie und besprüht mich ein wenig mit ihrem Parfüm. Ich lächele und sprühe ihr ebenfalls welches auf. Sie liebt dieses Spiel.
Ich nehme das violette Heft und lasse es im Rucksack verschwinden, ohne es aufzuschlagen. Den Füller stecke ich in meine Jackentasche. Lina nimmt ihren Schulranzen, der größer ist als sie.
»Gehen wir. Hast du alles?«
Sie nickt.
Als ich mit meiner Schwester an der Hand das Haus verlasse, komme ich mir unglaublich erwachsen vor. Erwachsen und so panisch, als würde die ganze Welt auf mich einstürzen. Ich fasse ihre Hand fester.
Wir besteigen den Bus und setzen uns gegenüber einer stark geschminkten Frau, die ganz damit beschäftigt ist, sich in ihrem Taschenspiegel zu bewundern. Der Mann neben ihr ist in seine ausladende Zeitung vertieft.
Obwohl ich mich vor dem fürchte, was ich dort finden könnte, durchforste ich aufmerksam die Titelseite. Die Typen von der Sekte werden mit einem Artikel auf der ersten Seite beehrt, ansonsten Politik, Auslandsnachrichten, Sport …
Nichts. Keine Erwähnung irgendeines Mordes.
Noch nicht, jedenfalls.
Meine Erzählungen beschreiben die Taten immer im Voraus, prophetisch.
Es ist zwecklos, mir einzureden, dass nichts passieren wird. Ich werde nicht noch einmal denselben Fehler machen. Das Böse setzt sich fort. Die Geschichten und die Morde ebenso.
Diesmal ist es jedoch anders. Ich hatte wirklich gehofft, es wäre alles vorbei, aber umsonst. Es ist, als würden sie mich rufen und ich dürfte die Verabredung nicht versäumen: Diesmal darf ich nicht im Nebel umkehren und flüchten. Es muss einen Sinn haben, dass gerade ich es bin, die schreibt.
Während ich so in meine Gedanken versunken bin, berührt etwas meine Hand. Ich zucke erschrocken zusammen. Aber es ist nur Lina, die mich darauf aufmerksam macht, dass ihre Schule an der nächsten Haltestelle ist.
»Möchtest du, dass ich dich bis zum Eingang bringe?«
Sie schüttelt den Kopf. Ich überrasche mich selbst und drücke ihr einen Kuss auf die Haare. Sie ist der einzige Mensch, bei dem ich mich so einfach gehen lassen kann.
Als wir halten, sehe ich Lina nach, wie sie mit ihrem riesigen Ranzen aussteigt und mir zuwinkt. Ich winke zurück, kurz bevor die Türen sich schließen.
Der Bus setzt seine Fahrt fort.
Ich steige eine Station vor meiner Schule aus und gehe die letzten Blocks zu Fuß. Bis zum Klingeln habe ich noch reichlich Zeit, so dass ich in Ruhe darüber nachdenken kann, was ich tun soll. Ich habe nicht die geringste Lust auf den Unterricht. Außerdem lässt mir die Frage, was Agatha uns verheimlicht, keine Ruhe.
Ich postiere mich hinter ein paar geparkten Autos, weit genug weg, um nicht gesehen zu werden, und nahe genug, um jeden einzelnen Schüler beim Hineingehen beobachten zu können. Wenn Agatha kommt, bedeutet das, dass heute der richtige Tag ist, um noch einmal zu ihr nach Hause zu gehen und ein für alle Mal herauszufinden, was für ein Geheimnis zwischen diesen düsteren Mauern gehütet wird.
Während ich warte, schlage ich das Heft auf und beginne, die letzte Geschichte zu lesen. Ein Wort
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