Nacht
Schalen überkrusteten Wände einen unheilvollen Widerschein aus. Das Gemäuer erinnert an eine von Seeleuten verfluchte Unglücksklippe.
Ich weiß nicht, ob Agatha zu Hause ist, aber beim Näherkommen sehe ich, wie jemand anderes auf das Gittertor zugeht. Es ist eine Frau. Sie hält etwas in der Hand, einen Korb anscheinend, der mit einem gestreiften Tuch bedeckt ist.
Ich beobachte, wie sie mühsam das schwere Tor aufschiebt und über den Gartenpfad zur Haustür geht, auf die Klingel drückt und wartet. Ich flüchte mich in ein Versteck und beobachte, ob Agatha aufmacht.
Hinter einem Fenster im ersten Stock erhasche ich eine Bewegung: Jemand hat einen Vorhang beiseitegeschoben und schnell wieder fallen lassen, wie um nicht gesehen zu werden.
Ein paar Augenblicke später geht die Haustür auf, und Agatha erscheint. Sie spricht kurz mit der Frau, ohne sie hereinzubitten, und nimmt ihr den Korb ab. Dann schließt sie die Tür wieder, worauf der Frau nichts anderes übrigbleibt, als sich zurückzuziehen.
Doch ehe sie aus dem Tor tritt, dreht sie sich noch einmal um und wirft einen Blick auf das Haus, als suchte sie nach einem Zeichen, nach einem Detail, das ihr eine Erklärung für etwas Undurchschaubares geben kann.
Kurz darauf wird derselbe Vorhang im ersten Stock gelüftet. Vermutlich will sich Agatha davon überzeugen, ob die Frau wirklich gegangen ist.
Was soll ich tun?
Ich überlege einen Moment. Agatha möchte keinen Besuch, so viel steht fest. Wenn ich mit ihr reden will, kann ich warten, bis sie herauskommt, oder es in der Schule tun, vor oder nach dem Unterricht. Mich erneut in ihr Haus einzuschleichen, erscheint mir keine gute Idee. Ich kann auch nicht davon ausgehen, dass das Kellerfenster an der Rückseite noch offen ist. Also ziehe ich mich ein paar Schritte zurück, blicke der davongehenden Frau nach und folge ihr dann langsam. Vielleicht hat sie die Aufgabe, sich um die Tante zu kümmern, wenn die Nichte in der Schule ist. Vielleicht ist sie die Pflegerin, von der Agatha gesprochen hat. Obwohl ich niemanden gesehen habe, als ich im Haus war. Vielleicht hat sie uns angelogen, und es gibt gar keine Krankenschwester. Aber wer sorgt dann für die Tante, wenn sie weg ist?
Die Frau läuft an ein paar Häusern vorbei und steuert dann auf eines zu, das ihr eigenes zu sein scheint. Möglicherweise ist sie einfach eine Nachbarin.
Ich beschleunige meinen Schritt und halte sie auf.
»Entschuldigen Sie?«
Sie dreht sich kurz um, mustert mich und geht weiter. Vor einem Gartentor bleibt sie stehen und schließt mit einem Schlüssel auf.
»Warten Sie bitte.«
Die Frau geht durch die Pforte und will sie gerade hinter sich schließen. Ich laufe ihr nach. Schätze, dieses Viertel ist nicht das sicherste. Jetzt hat sie das Tor zugemacht und eilt zur Haustür.
»Ich heiße Alma und bin eine Klassenkameradin von Agatha.«
Daraufhin hält sie endlich an und kommt zurück.
Ich betrachte sie aus der Nähe: Sie ist nicht sehr groß und ziemlich rundlich, vor allem im Gesicht, in dem zwei rote Pausbacken eine kleine Kartoffelnase umrahmen. Ihre vollen Lippen sind leicht mit einem zartrosa Lippenstift geschminkt. Sie hat kurze, graue, ungebändigte Haare und große schwarze Augen, die neugierig blicken.
»Was kann ich für dich tun?«, fragt sie, ohne die Pforte zwischen uns zu öffnen.
»Ich habe gesehen, dass Sie Agathas Tante besucht haben, und dachte, Sie könnten mir vielleicht Auskunft über ihren Gesundheitszustand geben.«
»Ich weiß nur, was Agatha mir sagt, denn ich habe Nives schon seit Jahren nicht mehr gesehen.«
Nives. Ich wusste nicht, dass Agathas Tante so heißt.
Dann erzählt die Frau weiter.
»Wir waren gute Freundinnen, ehe sie krank wurde. Jetzt sehen wir uns nicht mehr und sprechen auch nicht miteinander. Wegen ihrer schweren Erkrankung«, erklärt sie.
»Das heißt, Sie telefonieren noch nicht einmal miteinander?«
Das kommt mir absurd vor.
»Agatha sagt, dass es Nives zu sehr ermüdet, deshalb nimmt sie immer selbst ab. Sie berichtet mir, wie es ihr geht, mehr nicht. Ab und zu bringe ich etwas zu essen hin oder rufe mal an, um mich nach ihr zu erkundigen. Heute habe ich einen ausgezeichneten Zucchiniauflauf mit Majoran gemacht. Ich hoffe, er schmeckt Nives.«
»Sie betreten nie das Haus?«
»Nein, Agatha erlaubt das nicht. Wegen der Ansteckungsgefahr. Schon eine Kleinigkeit genügt, um Nives’ Zustand zu verschlechtern. Eine einfache Erkältung könnte sich tödlich
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