Nacht
Herzklopfen.
»Der Ausschluss wird für drei Monate festgesetzt, so dass du das gesamte Schuljahr wiederholen müssen wirst. Nicht einmal ein Musterschüler, der du gewiss nicht bist, könnte so viele versäumte Stunden aufholen. Aber das ist noch nicht alles.«
Ich höre deutlich, wie Dutzende meiner Mitschüler gleichzeitig schlucken.
»Im Einverständnis mit deinem Vater erachten wir es für sinnvoll, dass du in den Monaten des Unterrichtsverweises nicht zu Hause vor Videospielen herumgammeln darfst, sondern jeden Tag zur Schule kommen musst. Du wirst das Putzen hier übernehmen.«
Aus dem Publikum steigen Kommentare und Rufe wie eine Nebelbank auf, die auf unseren Köpfen lastet.
Scrooges Mund schließt sich zu einem selbstgefälligen Lächeln. Sein Mikro pfeift. Die Sekretärin sieht aus wie ein schleimiger, silbriger Fisch, bereit, ins heiße Öl geworfen zu werden. Adam dagegen steht stumm und unbeweglich da. Vermutlich erleidet er gerade die größte Demütigung seines Lebens.
Doch dann sieht er plötzlich auf: Funkelnde Wut in den Augen, scannt er unsere Gesichter, als würde er nach jemand Bestimmtem suchen. Ohne innezuhalten, wandert sein Blick hin und her.
Und heftet sich auf …
»Ihr könnt jetzt gehen!«, ordnet der Direktor in diesem Moment an und löst die Versammlung auf. »Geht zurück in eure Klassen, haltet euch an die Vorschriften und folgt unserem Unterricht, dann habt ihr nichts zu befürchten.«
»Warum hat Adam dich so angestarrt?«, frage ich Agatha, sobald wir aus der Turnhalle heraus sind.
Sie zuckt die Achseln. »Er hat nicht mich angeguckt.«
»Ich hab’s doch gesehen.«
»Wirklich? Und was hast du gesehen?«
»Dass er dich mit seinem Blick gesucht hat.«
»Ich habe gesehen, dass er nach dir gesucht hat.«
Ich bin verwirrt. Zuerst dachte ich das nämlich auch. Adam hat mich ja neulich schon auf der Treppe böse angefunkelt. Doch diesmal hatte ich den Eindruck, dass sein Blick an meinem Gesicht vorbeigeglitten ist und sich stattdessen wie Nägel in das von Agatha gebohrt hat.
»Wahrscheinlich wegen dem Spray«, bemerke ich.
Sie antwortet nicht.
»Hast du jemandem was gesagt?«, hake ich nach. »Nach unserem Überfall, meine ich.«
»Und wem, bitte schön?«
»Was weiß denn ich, Agatha. Irgendwem halt. Hast du vielleicht mit Scrooge gesprochen?«
»Ich spreche nie mit Scrooge! Ich spreche überhaupt nicht mit Lehrern oder sonst irgendwelchen Aufpassern. Die haben mir immer nur Scherereien gemacht. Außerdem …« Sie unterbricht sich kurz. »Was hätte ich ihm wohl sagen sollen? ›Wissen Sie, Herr Direktor, Adam hat ein Video von unserer halbnackten Freundin gedreht, und um uns zu rächen, haben wir ihm am Fluss mit einem Pfefferspray aufgelauert. Ich glaube, er war es auch, der Ihr Büro angezündet hat, auf Wiedersehen, schönen Tag noch‹?«
Sie hat recht. Die Frage war blöd. Agatha hätte nicht den geringsten Grund, zu Scrooge zu gehen. Sie respektiert keinerlei Autorität, weder die Polizei noch sonst irgendwelche Institutionen und schon gar nicht den Direktor.
Trotzdem, irgendetwas daran ist unklar. Etwas, das mit diesem Ring zu tun hat. Und vielleicht mit Morgan.
Der Meeresdrache.
»Weißt du, was ein Meeresdrache ist?«, frage ich sie.
»Was?«
»Ich habe gehört, dass in Adams Ring ein Meeresdrache eingraviert war.«
»Meinetwegen kann er einen Drachen aus Fleisch und Blut haben, ist mir doch egal. Was zählt, ist, dass man ihn gefunden hat.«
Ich nicke. Sie hat recht. Was zählt, ist, dass man ihn gefunden hat.
»Auf diese Weise ist Seline gerächt«, fügt Agatha nach ein paar Schritten hinzu.
»Was hat Seline damit zu tun?«
»Wir reden doch über Adam, oder?«, erwidert sie trocken. »Sieh sie dir nur an.« Sie deutet mit dem Kopf auf die zerbrechliche Gestalt von Seline, die vor uns herschleicht, als hätte Scrooges Urteil sie getroffen und nicht Adam.
»Denkst du etwa, sie freut sich darüber?«, frage ich abfällig.
»Sie sollte es.«
»Egal, was mit Adam passiert, sie ist am Boden zerstört. Sie hatte ihn gern.«
»Adam ist ein Dreckskerl und hat gekriegt, was er verdient.«
»Er wird ein ganzes Schuljahr verlieren.«
»Auch Seline hat etwas verloren.«
»Stimmt. Aber …«
Agatha bleibt stehen und sieht mich an. »Sieh’s doch mal so. Dieses Meeresding …«
»Drache.«
»Dieser Meeresdrache war so was wie ein göttlicher Fingerzeig.«
»Was meinst du damit?«
»Nur, dass es vielleicht doch eine Gerechtigkeit
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